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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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Geschäft, gewiss nicht, aber eine s , bei dem m an, wie er sagte, seine Ruhe hatte.
    War Chiara deshalb neidisch auf Jula? Nicht, wenn sie ihren eigenen Beteuerungen Glauben schenkte. Und dennoch: Sie war wütend, dass ihre Schwester sie m it d e m Vater und der m onoton e n Arbeit allein ließ und stattdessen den Luxus Berlins genoss. An m anchen Tagen war Chiara verbittert gewesen, an anderen wütend, und es hatte Mo m ente gegeben, in denen sie sich von Jula um ihr Leben betrogen gefühlt hatte. Doch dann waren da auch Tage, an denen sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte, als sie bei ihrem Vater blieb. Sie liebte ihn, liebte das klein s tädtisc h e Meißen m it all den Menschen, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie fühlte sich geborgen an den Orten, die sich nie verändert hatten und die sie dann und wann besuchen konnte, um sich wieder so behütet und glücklich zu fühlen wie einst, als ihre Familie noch beisam m en und das Leben sorglos gewesen war.
    Die Mutter der Mädchen war gestorben, als Chiara vier war. Sie konnte sich kaum a n sie erinnern. Eine Italienerin, Opern-Sängerin am Meißener Theater, die aus Liebe zu einem Manufakte u r für Schreib b locks, Rechnungsbücher und Durchschreibebücher ihre Karriere aufgegeben hatte. Chiara hat t e sich schon als Kind gefragt, was für eine Art von Karriere es w ohl gewesen war, vor dem Meißener Publikum Arien zu singen.
    Al s Jul a fo r tging , hatt e si e m i t ihr e m Vate r g e brochen. Verbitter t h a tt e e r Chiar a erklärt , vo n nu n a n se i Jul a fü r ihn tot , e r woll e nicht s meh r vo n ih r wissen , un d t atsächlich hatt e e r ni e wiede r ei n Wor t übe r si e verloren . Doc h als dan n vo r v i e r Tage n t a tsächlic h d i e Nachrich t vo n Julas To d kam , setzt e e r sic h i n seine n Sesse l vo r d e m Of e n , raucht e ein e letzt e Pfe i fe , schlos s di e Auge n un d s tarb.
    Einfach so.
    Chiara war nicht hier, weil s i e um Jula trauerte. Es gab For m alitäte n , die sie als einzige V e rwandte zu erle d i gen hatte. Danach würde sie nach Hause fahren, die Wohnung und die W e rkstatt im Hinterhaus verkaufen und m it d e m Geld, das sie dafür bekam, ein neues Leben beginnen. W i e das aussehen sollte? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Sie war s i ch nicht ei n m al i m Klaren darü b er, ob sie in Meißen le b en wollte. Sicher war, sie wollte in kei n e Großstadt ziehen. Aber konnte sie dann nicht gleich in Meißen bleiben? W arum s i ch der Ungewissheit einer anderen Provinzstadt, fr e m den Menschen und neuen Beziehungen aussetzen?
    Liebe Güte, jet z t klingst du wie dein Vater! So w eit also ist es g ek o mmen. Er hat dich a ngestec k t m it seiner Verbitterung. Du denkst schon j e tzt wie eine alte W itwe, ohne den dazugehörigen Mann verloren zu haben.
    I n gewisse r Weis e bracht e da s ihr e Sorge n au f de n Punkt.
    Si e wollt e Veränderung , si e sehn t e sic h dan a ch , abe r sie wollt e si e nich t u m jede n Pre i s . Si e hatt e Freund e gehabt, Geliebte , abe r da s ware n Spielereie n gewe s en , ni c hts , i n das si e Hof f nunge n gesetz t hatte . G a b e s i n Meiße n fü r si e eine Chance , das s sic h dara n etwa s änd e rte ? Ve r m u t lic h nicht. Hie r i n B e rlin , ja , hi e r m o c ht e e s Männe r geben , die interessan t waren , di e si e fasziniere n un d a m üsie r e n konnt e n . Abe r i n Meiß e n ? I n Meiße n gal t jed e r bessere Angestellt e au s de r Porzell a n m anu f aktu r al s gut e Partie.
    Sie m usste dort weg. G anz gle i ch, wohin; egal, ob sie es später bere u t e. Aber Berli n ? Nein, d as war k eine Stadt für sie, kein Ort, an dem sie ihr Leben verbringen wollte.
    Die Melodie m achte sie schwer m ütig, m ehr noch als all diese Me n schen in Schwarz, m ehr noch als die Gewissheit, dass die Tote im Sarg ihre älte r e Schwester war. Sie ha tten sie i h r gez e igt, g estern Nac h m ittag im Leichenschauhaus, und es gab keinen Zweifel, dass es Jula war. Als hätten sie dafür Chi a ras Bestätigung gebraucht. Sie hätten jeden fragen können, jedes junge Mädchen in den Schlangen vor den Fil m theatern, jeden Burschen an irgendeiner Straßenecke. Sie alle hatten Jula gekannt.
    Chiara hatte die Fil m e angeschaut, zu m i ndest jene, die nach Meißen k a m en, und sie hatte sich gefragt, wie dieses Gesicht dort oben auf der Leinwand, fünf m al fünf Meter groß und von geradezu überir d ischer Schönheit, ihre eigene Schwester sein konnte. Das dort
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