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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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Biegung, und die Lichter blieben zurück.
    »Da kom m e ich her.«
    »Ja, stim m t , das habe ich gelesen.«
    Gelesen? H atte je m and eine Akte über sie angelegt? Buch geführt über ihr Leben? W elches Leben?
    » W o laufen wir hin? W as ist eigentlich passiert?«
    Er blieb stehen und hielt sie m it einem Ruck fest. Ihre Bewegungen waren i m m er noch auto m atisch wie die einer Maschine. E s war nicht gut, sie aus dem Takt zu bringen.
    »Hören Sie«, sagte er schar f , »ich w erde Ihnen erklären, was Sie wissen m üssen. Aber nicht jetzt und nicht hier. Man wird b e m erken, dass Sie fort sind, ver m utlich gerade in diesem Mo m ent. Und ich werde Sie kein zweites Mal retten.«
    D a m it trieb er sie weiter, und jetzt sagte sie nichts m ehr. Endlich hatte sie sein Gesicht gesehen, im Halbdunkel und im m er noch ein wenig unscharf, ab e r sie wus s te jet z t, wie er aussah. Nicht dass sie ihn erkannte, aber das m achte nichts – sie erkannte ja nic h t ei n m al sich selbst. Alles geschah m it ihr, aber irgendwie geschah es auch m it einer anderen. Als wäre sie ihre eigene Doppelgängerin.
    Im m er wieder schaute er sich u m , suchte nach Verfolgern. Ein m al wi c h er einer Ans a m m lung düster e r Gestalten a u s, den ei n zigen Menschen, denen sie während ihrer Flucht begegnete; sie kauerten um einen Blechei m er, aus dem ein paar kleine Flamm e n schlugen. Einer von ihnen fütterte das Feuer m it e t was, das wie abgeschlagene Hände aussah. Oder wie Wurzeln.
    Sie rannten durch einen kle i nen Park, ein ungepflegtes Dickicht an einer Straßenecke. Die Bau m kronen rauschten über ihren Köpfen wie ersta r rte Explosionen aus Holz.
    Zu guter Letzt scheuchte er sie durch einen Hauseingang, eine Treppe hinauf und an einer unbeleuc h t eten Reze p tion vor b ei. Eines dieser Etagenhotels; sie hatte selbst ein m al in einem gewohnt.
    Diese Stadt … Sie war ganz nahe daran, sich an den  N a m en zu erinnern.
    In einem Zim m er sank sie in einen Sessel, während  Sager zwei m al den Schlüssel im Schloss u m drehte. Etwas  fiel aus ihrer Tasche, ein Stück Papier. Sie war froh, dass es auf der Sesselkante liegen blieb, denn sie hätte nicht die Kraft aufgebracht, sich vorzubeugen und es vom Boden aufzuheben. So aber konnte sie es neh m en und auseinan d er falten. Fe s t es P a pier, zie m lich hart. Nicht dazu gedacht, gefaltet zu werden. Erst nach einem Augenblick ergaben die Buchstaben einen Sinn, fo r m ierten s i ch zu W orten w i e ein Haufen kleiner Nägel, die je m and rasch in eine Reihe hämmert.
    Es war die Einladung zu einer Pre m iere. Der Titel des Fil m s sagte ihr n i chts, wohl aber einer der Stars d es Abends. Darunter war das Fil m plakat abgedruckt, m i t zwei gez e i c hneten Gesichtern im Halbsch a tten.
    Eines war i h r Gesicht. I h r Na m e. Chiara Mondschein.
    Aber das war Unfug! Nicht sie w ar die Schauspielerin, sondern ihre Schwester … Ja, sie erinnerte sich. Jula war nach Berlin gegangen, um Schauspielerin zu werden. Jula war fünf Jahre älter als si e.
    Berlin. Dies war Be r lin. Und Chiara war gekom m en, um  … ja, warum eigentlich?
    Sager hatte sich ihr gegenüber auf der Bettkante niedergelassen. Sein Atem rasselte. Er hatte eine Hand unter sein H e m d geschoben und kratzte sich m it hektischen Bewegungen am Oberkörper, kratzte wie ein Wahnsinniger seine Brust. Seine Fingernägel verursachten ein scharfes Rascheln, ein p e netrantes Auf und Ab, so rau, a l s zer f e t z t en s i e un t er d e m Stoff ganze Schichten von Perga m ent. Dabei ließ er Chiara nicht aus den Augen, kratzte und starrte sie an.
    »Sie erinnern sich all m ählich, stimmt’s ? «
    »Nicht an Sie.«
    »Aber an das Gesicht auf der Einladung.«
    »Darauf habe ich dunkles Haar.«
    Er lächelte, ohne m it dem Kratzen aufzuhören. Ganz kurz glaubte sie, ein Aufglimmen von Sch m erz in seinen Augen zu sehen. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig, fast zwei Jahrzehnte älter als sie selb s t . Sie war vierundzwanzig. Oder war es gewesen, als sie Meißen verlassen hatte.
    »Sie sind nach Berlin gekom m en, um Ihre Schwester z u beerdi g en«, sagte er un v er m ittelt.
    »Jula ist tot?« Eine Frage und zugleich eine Feststellung. Jetzt, wo er es sagte, w a r es keine Überraschung m ehr. Jula war gestorben, s i e erinnerte sich. S e lbst m ord, hatte es geheißen. E i n Cocktail aus Kokain, Morphium, Heroin und Alkohol. Todsicher, wenn die Mischung stim m t . Und Jula kannte sich aus.
    » W as ist
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