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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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oben waren Kalifentöchter, Prinzessinnen, gefallene Mädchen oder Verbrecher b räute. Die J ula j e denfalls, die Chiara gekannt h a tt e, w ar d as g e w i ss ni ch t . N i c h t d as Mä d c h e n , m i t d em sie ein Zim m er geteilt hatte, d em sie von i h rer ersten Menstruation und ihrer ersten großen Liebe erzählt hatte. Nicht die Jula, die an den Nägeln kaute oder sich Pickel auf der Stirn ausdrückte.
    Morphiu m , Kokain, Heroin und Alkohol. W as hatte Jula
    gedacht, in ihren l e t z ten M i nuten? Was hatte sie gesehen? Noch größeren Ruhm oder das Gegenteil?
    Chiara wandte sich ab und wollte zum Ausg a ng gehen, als sie die Frau be m erkte, die sie von der anderen Seite des Kieswegs aus anstarrte. S i e trug ein dunkles Kostü m , war wohl einiges über fünfzig und hatte ihre Lippen m it einem Rot nachg e zogen, das auf der Leinwand ver m utlich schwarz a u sgesehen hätte. Sie i s t keine Schauspielerin, dachte Chiara, sie bewe g t s i ch nicht wie die anderen. Kurz zuvor hatte sie Asta Niels e n gesehen, ein w enig später Pola Negri; diese Frauen schwebten über den Friedhof wie Geister verstorbener Königinnen, getragen von ihrer eigenen Aura der Unnahbarkeit. Die Frau auf dem Kiesweg war anders, keine Schönheit, und von Schweben konnte keine Rede sein.
    Chiara ging an ihr vorbei Richtung Ausgang, in der Hoffnung, schnell genug im Strom der Besucher unterzutauchen, bevor die Frau sie ansprechen konnte.
    »Entschuldigen Sie.« Eine Stim m e in ihrem Rü c ken, rau von zu vielen Zigaretten. Chi a ra blieb stehen, ohne sich u m zudrehen. »Sie sind Julas Schwester, nicht wahr? Chiara Mondschein.«
    »So ? « Sie drehte sich um und fühlte sich vom entwaffnenden Lächeln der Frau überru m pelt.
    »Henriette Hegenbarth«, ste l lte die Frau sich vor und strec k te ihr die Hand entge g en. »Henriette, für Sie.«
    »Mondschein« , ga b si e zurüc k un d lie ß di e H a n d los , kaum d a s s s i e s i e b e rüh r t h a tt e . »Fra u Mondschein , fü r S ie.«
    »Du liebe Güte, ich will Ihnen nicht l ä stig f allen. W i rklich nicht.«
    »Meine Bahn fährt in ein paar Minuten.« Das war Unsinn, doch ihr Gegenüber zei g te durch nichts, dass sie die Lüge durchschaute – vermutlich fuhr sie nie
    Straßenbahn.
    »Ich will Sie nicht lange aufhalten, Frau Mondschein.«
    » W as kann ich für Sie tun ? «
    Henriette strahlte sie an. »Sie wollen m it all dem hier nichts zu tun haben, oder? Das kann ich verstehen.«
    »Nein, können Sie nic h t. Sonst wären Sie nicht f reiwillig hier.«
    Das Lächeln kühlte um ein paar Grad ab, wohl e her vor Erstaunen als vor Ärger. »Sie sehen nicht nur aus wie Ihre Schwester, Sie sind auch genauso geschickt wie sie darin, andere abzukanzeln.«
    Wenn sie eines ganz gewiss nicht w ollte, dann so zu sein wie Jula. »Tut m i r Leid. Aber ich bin wirklich in Eile.« Wurden Lügen durch ihre W i ederholung wahrer?
    »Die Ähnli c hkeit zwisc h en Ihn e n beiden ist frappierend. W i rklich erstaunlich. Dabei s i nd Sie doch um einiges jünger, soweit ich weiß. F ünf Jahre, glaube ich.«
    »Sind Sie eine Verehrerin m einer Schwester ? «
    Die Augen der Frau blitzten. » W er ist das nicht?« Aber Chiara vermochte nicht zu s a gen, ob die W orte sarkastisch oder aufrichtig ge m eint waren. »Ich arbeite für die Berlin e r Ill u stri e rte. Das ist eine große …«
    »Illustrierte. Ich weiß.«
    Ein verhaltenes Lächeln. »Ja, natürlich. Tut m i r Leid. Ich bin das, was m an landlä u fig eine Kla t schreporterin nennt. Gesellschaftskolu m nistin, heißt das auf Einladungen. Sch m eißfliege, hinter vorgehaltener Hand.«
    Chiara sch w ieg und lächelte nicht.
    »Bitte«, s a g t e die Reporte r i n, »ich will nicht u m den heißen Brei heru m reden. Ich arbeite an einem Buch über Ihre Schwester. Kindheit, Jugend, die ersten Erfolge und so weiter.«
    »Aha.«
    »Ich neh m e an, Sie wissen, auf was ich hinaus will.« Chiara wandte sich ab u n d ging. »Auf W i edersehen. W ar  schön, Sie kennen zu lernen.«
    Die Kolumnistin lief auf kurzen Beinen hinter ihr he r .
    »Bitte, Frau Mondschein … Nun lassen Sie m i ch doch nicht einfach so stehen . «
    »Sagen Sie bloß, daran sind Sie nicht gewöhnt?«
    »Um ehrlich zu sein, nein.«
    »Ich bin kein Star, Frau …«
    »Hegenbarth … Henriette.«
    »Frau Hegenbarth, richtig. Ich bin nicht darauf angewiesen, in Ihrer Kolu m ne aufzutauchen. Und ganz sicher nicht in Ihrem Buch.«
    »Aber das werden Sie so oder
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