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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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hierher. Oder nein, ich komme lieber zu Ihnen ins Büro. Passt es Ihnen um zehn? Oder vielleicht besser um zwölf – ich bringe erst noch meinen Sohn in die Poliklinik, und von dort fahre ich zu Ihnen.«
    »Ich würde mir gern mit Ihnen zusammen die Aufzeichnung unseres Gesprächs mit Ihrem Mann anhören«, sagte Kolossow zum Abschied. »Sie könnten dabei einige Fragen klären.«
    Aurora nickte, nahm ihre Kinder an der Hand und ging mit ihnen ins Haus. Nikita schaute ihr nach. Er war überzeugt, sie morgen wiederzusehen. Er ahnte nicht, dass morgen alles ganz anders kommen sollte.

32
    Später dachte Katja noch oft an diesen Tag zurück und musste sich eingestehen: Ihre Intuition hatte versagt – sie hatte die Gefahr nicht vorausgeahnt. Die Zeit schien an diesem heißen Augustnachmittag stillzustehen. Durch das geöffnete Fenster drang der Lärm der Stadt, die unter der Sonne, dem Staub und dem Smog schmachtete. Im Präsidium war Mittagspause, aber Katja hatte bei dieser Hitze keinen Appetit. Sie saß an einem Artikel, aber ohne großen Enthusiasmus – Straßendiebe beflügelten ihre schöpferische Fantasie nicht besonders.
    Das Telefon klingelte – lang und hartnäckig.
    »Hallo«, meldete Katja sich widerwillig.
    »Grüß dich.« Eine vertraute Stimme aus weiter Feme, etwas heiser und schlecht verständlich, wie aus einem hallenden Fass. Katjas Herz tat einen freudigen Sprung.
    »Wadim!«
    »Natürlich, wer sonst. Hast du schon Sehnsucht nach mir?«
    An der Art, wie er diese Frage stellte, erkannte Katja sofort -ihr Göttergatte hatte gehörig einen sitzen.
    »Große Sehnsucht. Wann kommst du?«
    »Heute Nacht. . . genauer gesagt morgen früh, sehr früh. Das Flugzeug landet um . . . Ich hab auch solche Sehnsucht, diese Badeorte gehen mir schon auf die Nerven . . . Hallo? Katja, leg noch nicht auf, warte!«
    »Das sind nur Störungen in der Leitung!« Wie konnte ihm nur so ein frevelhafter Gedanke kommen, nach zwei Wochen Trennung?
    »Ich hab dich lieb, hörst du? Sergej und ich . . . wir sitzen hier in einer B-Bar, nehmen Abschied vom Meer . . .« Wadim hörte sich an wie ein Pirat, der zu viel Rum getrunken hat. »Sergej hat dich auch lieb . . . Ich bin schon richtig eifersüchtig . . .«
    »Mit welchem Flug kommt ihr denn?«, schrie Katja aufgeregt in den Hörer. »Welche Uhrzeit, welcher Flughafen?«
    »Ich hab dich ganz doll lieb«, beteuerte ihr Mann aus dem fernen Süden. Es folgte ein Knacken, dann ein melancholisches Tuten. Katja warf den Hörer hin. Was sollte sie tun? Wieso gibt es in Moskau so viele Flughäfen, dass man den eigenen Mann nicht wiederfindet? Bis zum Einchecken waren die beiden bestimmt noch nicht nüchtern -die Bars in Sotschi hatten rund um die Uhr geöffnet, und der Tequila und der abchasische Schankwein flossen dort in Strömen . . .
    Die Lust zum Arbeiten war ihr endgültig vergangen. Wieder klingelte das Telefon, hastig griff sie zum Hörer, in der Hoffnung, es könne diesmal Sergej Meschtscherski sein.
    »Katja, ich bin’s!«
    Das war nicht Meschtscherskis Stimme, sondern die von Anfissa. Sie klang seltsam – erschreckt und aufgeregt.
    »Hallo, Anfissa, ist was passiert? Von wo rufst du an?«
    »Von zu Hause. Katja . . . Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, damit du mich richtig verstehst und mir sagen kannst, was wir unternehmen sollen . . .«
    »Aber was ist denn los? Immer mit der Ruhe, Anfissa, erzähl mir alles der Reihe nach!«
    »Genau das ist ja das Problem . . . Katja, ich bin fix und fertig, ich erkenne mich selbst nicht wieder!« Anfissas Stimme zitterte. »Bei ganz einfachen, alltäglichen Dingen kommen mir die schlimmsten Gedanken. Ich habe Angst, panische Angst, seit ich weiß, dass Petja vergiftet wurde . . . Es war nicht der Fisch, oder? Du weißt es bestimmt genau – bitte, sag mir, er ist doch nicht an Fischvergiftung gestorben?«
    »Er wurde mit Thalliumsulfat vergiftet«, antwortete Katja.
    »Ich wusste es, ich wusste es schon dort im Restaurant!« Anfissa bekam vor Aufregung kaum noch Luft. »Er hatte vorher noch irgendeine Verabredung, begreifst du? Er war ganz verschwitzt, als hätte er in großer Eile einen weiten Weg zurückgelegt. Mir hat er gesagt, er hätte auf dem Ring im Stau gestanden. Aber er wohnt doch im Zentrum, und seine Redaktion ist auch im Zentrum. Die ganzen letzten Tage habe ich überlegt – was hat er auf dem Ring gemacht, wo kann er gewesen sein?«
    »Anfissa, ich verstehe überhaupt nichts. Sag mir, was ist denn
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