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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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Telefon war besetzt.
    »Den Kaffee hat Iwan Grigorjewitsch gekocht.« Lebhaft plaudernd griff Maria nach der Thermoskanne. »Mit Ingwer und Kardamom, das ist seine Spezialität.« Sie zog Auroras Tasse zu sich heran und drückte auf den Deckel der Thermoskanne. Ein dampfender brauner Strahl floss in die Tasse. Auf der Veranda verbreitete sich der appetitliche Duft nach starkem Kaffee und Gewürzen. Aurora zog ihre Jeansjacke aus, setzte sich bequemer hin und griff nach der Tasse. Maria hob den Deckel von der Torte.
    »Du warst also noch im Restaurant?«, fragte Aurora.
    »Ja, ich habe unterwegs kurz vorbeigeschaut. Heute war schon vormittags Kundschaft da. Ich glaube, es würde sich lohnen, zusätzlich zum Lunch auch Frühstück anzubieten.«
    »Manchmal tut es mir Leid, dass das ›Al-Maghrib‹ ein orientalisches Restaurant ist und dass ich es war, die darauf bestanden hat.« Aurora blickte durchs Fenster auf den mit Unkraut überwucherten Rasen. »Nach allem, was jetzt passiert ist . . .«
    »Mit dem, was passiert ist, hat der Orient nichts zu tun«, bemerkte Maria.
    »Aber mir kommt es manchmal so vor, als hätte ich das ganze Unglück dadurch erst heraufbeschworen, als wäre dieser arabische Name schuld und wir alle wären nur meinetwegen . . .« Aurora sprach den Satz nicht zu Ende. »Weißt du noch, was Lew Saiko gesagt hat?«
    »Saiko schwatzt viel, wenn der Tag lang ist. Trink deinen Kaffee, Kindchen, er wird kalt. . .«
    »Nein, manchmal sagt er ganz erstaunliche Sachen. Er hat immer gewarnt: ›Der Orient ist ein doppelköpfiger Janus. Man darf ihn nicht in sein Herz lassen, denn er verzeiht keine Fehler und kennt kein Erbarmen . . . Und sein prächtiges Erscheinungsbild, all dieser Dekor aus Tausendundeiner Nacht ist nur eine Fata Morgana. Dahinter verbirgt sich ein schrecklicher, gnadenloser Kampf ums Überleben, in dem es keinen Platz für Gewissensbisse gibt und in dem alle Mittel recht sind, um ein Ziel zu erreichen – ein Messerstich ins Herz mitten im Gewühl eines Basars, vergiftete Mandeltörtchen, die am Tisch eines Freundes serviert werden . . .‹ Weißt du noch, was Saiko von dem Gift erzählt hat?«
    »Du hast dir zu oft sein albernes Märchen über die neunundzwanzig Prinzen von Marrakesch anhören müssen, genau wie wir alle.«
    »Aber das ist kein Märchen.« Aurora schüttelte den Kopf. »Siehst du denn nicht – es ist kein Märchen mehr. Max ist tot, Pjotr ist tot, deine Kellnerin ist tot. . . Und ich habe Angst, mein Gott, ich habe solch schreckliche Angst. . .«
    »Trink deinen Kaffee und beruhige dich.« Maria schob die Tasse ein Stück näher an Aurora heran.
    »Wie stark der Kaffee nach den Gewürzen duftet«, sagte Aurora. »Und wie schwarz er ist. Schwarz wie die Nacht. . .«
    Sie schaute Maria an.
    »Ich trinke zur Gesellschaft eine Tasse mit«, sagte die und goss sich aus der Thermoskanne Kaffee ein. »Ich verstehe dich ja, Kindchen, alle deine Ängste. Ich bin selber mit den Nerven am Ende . . .«
    »Alles, was ich jetzt möchte, ist eine neue Wohnung, wo ich die Kinder lassen kann, und dann wegfahren, irgendwohin, wenigstens für ein paar Tage. Endlich mal rauskommen, alles hinter sich lassen . . .«
    »Eine gute Idee.« Maria griff nach einer Schokoladenpraline und stieß dabei mit dem Ellbogen an ihre volle Kaffeetasse. Auf dem Leinentischtuch breitete sich ein brauner Fleck aus.
    »Ach, verflixt«, rief Maria, »wie ungeschickt von mir . . .«
    »Ich glaube, die Pforte hat geschlagen.« Aurora wollte sich vom Tisch erheben. »Nein, doch nicht. . . Und ich dachte schon, das ist Mark Naumowitsch.«
    »Sitschkin kommt bestimmt gleich. Warum nimmst du nichts von der Torte? Und dein Kaffee wird kalt. . . Ist dir nicht gut, Kindchen? Wie fühlst du dich?«
    In Marias Stimme schwang ein eigenartiger Unterton. Wo hatte sie diese Frage nur schon einmal gehört, diesen unaufrichtigen, heuchlerischen Tonfall? Verwirrt starrte Aurora auf die mit Kaffee beschmutzte Tischdecke. Plötzlich fiel es ihr ein . . .
    Der Major von der Kripo, der heute da gewesen war, hatte sie ja danach gefragt. Noch dazu so hartnäckig, dass es wie eine trübe, verborgene Drohung geklungen hatte.
    »Wo bleibt Sitschkin denn bloß?«
    »Er wird gleich kommen, wo soll er schon sein? Was hast du denn? Du zitterst ja wie Espenlaub . . . Ein Schluck heißer Kaffee wird dir gut tun. Genau das, was du jetzt brauchst.« Maria schob die Kaffeetasse noch weiter zu Aurora hinüber. Der intensive Duft des gemahlenen
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