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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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einfach nicht begreifen, wieso er so rasen sollte, ohne Rücksicht auf die verstopften Straßen, die roten Ampeln und die Pfiffe des Verkehrspolizisten zu nehmen. Er hatte auch beträchtliche Schwierigkeiten, an der Metrostation »Rjasanski Prospekt« eine Stelle zu finden, wo er halten und einen weiteren erschrockenen Passagier an Bord nehmen konnte.
    »Wohin wollt ihr denn so eilig, Mädels?«, fragte er alle paar Minuten. »Die ganze Hast nützt gar nichts, um diese Zeit ist es sowieso überall voll.«
    Das war es wirklich – Rush Hour, halb sechs, die ganze Rjasanski-Chaussee war ein einziger Stau.
    An der Abfahrt nach Tomilino erreichte Katja endlich Kolossow. Hastig berichtete sie, wohin sie fuhren und warum.
    »Ich komme sofort nach«, sagte Kolossow. »Vielleicht ist es nur blinder Alarm, aber trotzdem, Katja, sei vorsichtig. Unternimm nichts auf eigene Faust. Warte auf mich.«
    Kurz nach sieben erreichten sie Malachowka. Sie stoppten an der Weggabelung neben dem Wegweiser und stiegen aus.
    »Die Datscha liegt an dieser Straße«, flüsterte Anfissa. »Das letzte Haus vorm Wald, daran erinnere ich mich genau.«
    Sie schritten rasch über den menschenleeren, von dicht wuchernden Sträuchern gesäumten Datschenweg. Es war sehr still, kein Windhauch regte sich. Ein schläfriger, friedlicher Abend nach einem schwülheißen Sommertag. Nur die rastlosen Schwalben strichen noch über den rosa- und fliederfarbenen Abendhimmel.
    »Sieh mal dort.« Anfissa packte Katja am Arm: Am Ende der Straße, neben dem grünen, vom Strauchwerk fast verdeckten Zaun stand ein ausländisches Auto – Auroras Wagen, kein Zweifel. . .
    Es quietschte, und die von Heckenrosen überwachsene Gartenpforte öffnete sich. Hals über Kopf huschten die beiden Frauen ins Holunderdickicht. Maria Potechina trat heraus. Sie schaute sich um und öffnete dann behutsam, sichtlich bemüht, keinen Lärm zu machen, das Einfahrtstor zur Datscha. Dann ging sie zu dem Wagen. Die Alarmanlage piepste: Maria hielt die Autoschlüssel in der Hand. Sie setzte sich ans Steuer und fuhr den Wagen auf das Grundstück. Dann schloss sie das Tor. Man hörte, wie die Gartenpforte zugeschlagen und von innen verriegelt wurde.
    »Über den Zaun kommen wir auf dieser Seite nicht rüber«, flüsterte Anfissa. »Am besten, wir gehen um das Grundstück herum, ich glaube, auf der anderen Seite ist eine Art Schlucht.«
    Sie rannten die Straße hinunter. Anfissa keuchte, hielt aber mit Katja Schritt. Sitschkins Grundstück kam Katja riesig vor. Es grenzte unmittelbar an den Wald und war von der Straße durch eine kleine, nicht besonders tiefe Senke getrennt, die mit Brennnesseln zugewachsen war. Der Zaun war auf dieser Seite viel niedriger und sah auch erheblich baufälliger aus. Katja und Anfissa waren von den Brennnesseln ganz zerkratzt, als sie ihn erreichten. Anfissa begann sofort an den Brettern zu rütteln und entdeckte ein paar, die fast zur Gänze durchgefault waren. Nur mit Grausen dachte Katja später daran zurück, wie sie diesen verflixten Zaun überwunden hatten. Vier Splitter mussten ihr danach aus einem Körperteil entfernt werden, den eine Frau in anständiger Gesellschaft besser nicht erwähnt. Schließlich waren sie auf dem Grundstück angelangt. Gleich hinter dem Zaun stand ein alter Schuppen. Dichte Haselnuss- und Ebereschensträucher versperrten ihnen die Sicht.
    »Hast du das gehört?« Anfissa packte Katja wieder fest am Arm. »Das Geräusch . . . das war eine Autotür.«
    Durchs hohe Gras stolpernd und sich an den Sträuchern festhaltend, erreichten sie das Haus. Auroras Wagen stand direkt an der Vortreppe. Die Türen waren geschlossen, nur der Kofferraum war geöffnet. Wieder ertönten Geräusche. Katja spannte sich an – es schien aus dem Haus zu kommen. Knarrend ging die Tür auf, und Katja erblickte Maria Potechina. Tief gebückt, kam sie rückwärts heraus und schleifte dabei wie einen Sack Kartoffeln etwas über den Boden: den leblosen Körper einer Frau, den sie an den Armen gepackt hielt. Katja sah zerzauste, mit Blut verschmierte blonde Haare, einen tief in den Nacken gefallenen Kopf, ein verrutschtes rosa T-Shirt. Mit Mühe wuchtete Maria ihre Last in die Höhe, versuchte den Körper ans Auto zu lehnen, schaffte es aber nicht. Aurora rutschte wieder zu Boden. Maria verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe ebenfalls gefallen.
    »Was machst du da?«
    Das war Anfissa, die diese Worte geschrien hatte. Ohne zu überlegen, sprang sie aus den
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