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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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Arabica und der Gewürze stieg Aurora in die Nase. Sie hob die Tasse zum Mund und . . . stellte sie plötzlich wieder hin, ohne getrunken zu haben. Klirrend stieß die Tasse auf die Untertasse. Das Geräusch klang den beiden einander gegenübersitzenden Frauen unnatürlich laut und unangenehm in den Ohren.
    »Was ist?«, fragte Maria scharf.
    Aurora schaute sie erschrocken an – das Gesicht ihrer Freundin war tödlich bleich.
    »Was ist?«, wiederholte Maria. »Trink doch. Trink!«
    »Nein.« Aurora wich unwillkürlich zurück und wollte aufstehen. Ihr Stuhl rutschte polternd nach hinten.
    »Bist du denn völlig übergeschnappt, du blöde Gans?!«, kreischte Maria, und dieser verzweifelte, enttäuschte Aufschrei traf Aurora wie ein Peitschenhieb. Sie sprang auf und handelte blitzschnell, wie in einer seltsamen fiebrigen Besinnungslosigkeit und zugleich Klarsichtigkeit, in einem Zustand, in dem man nichts denkt und nichts fühlt außer wilder, animalischer Todesangst, die einem die Kehle zuschnürt. Sie riss das Tischtuch herunter, und alles, was auf dem Tisch stand, fiel krachend zu Boden. Die Thermoskanne schlug wie eine Bombe auf ein Dielenbrett. Der Kunststoffdeckel sprang ab, der heiße Kaffee strömte heraus und bildete eine dampfende Pfütze. Maria prallte vor dieser Pfütze so jäh zurück, dass Aurora entsetzt begriff, dass . . . Nein, sie wollte einfach noch nicht glauben, was ihr wie verrückt hämmerndes Herz klopfte und schrie, es war zu furchtbar, als dass es die Wahrheit sein konnte . . . Doch stärker als alles andere war ihr Selbsterhaltungstrieb.
    Sie stürzte, gegen die Stühle stoßend, zur Tür. Aber Maria kam ihr zuvor und versperrte ihr den Weg.
    »Du hast es also erraten . . . Hast es doch noch gemerkt, du Schlampe . . .«
    Aurora erkannte Marias Stimme kaum wieder – sie hatte sich in ein unartikuliertes Krächzen verwandelt. Vor Wut und Hass bekam Maria kaum noch Luft.
    »Hast es erraten, du verdammtes Biest. . .« Der Schlüssel drehte sich im Schlüsselloch, Maria steckte ihn in ihre Tasche. »So viele Menschen mussten deinetwegen sterben . . . so viele Sünden begangen werden . . .« Sie bückte sich und ergriff den abgebrochenen Hals einer Kognakflasche. »Und du bist immer noch am Leben . . .«
    »Was hast du vor?!«, schrie Aurora und rannte aus dem Wintergarten ins Innere des Hauses. »Komm zur Besinnung! Ich bin es doch . . . Warum tust du so etwas?«
    »Du bist immer noch am Leben . . . schmiedest Pläne, für mein Geld, auf meine Kosten willst du ein neues Leben anfangen.« Maria folgte ihr auf den Fersen. »Aber du wirst trotzdem krepieren . . . auch ohne den Kaffee wirst du krepieren.« Sie holte aus und schleuderte den Flaschenhals nach Aurora. Die spitze Glasscherbe traf Aurora an der Hüfte. Sie schrie vor Schmerz auf und presste die Hand auf die tiefe Schnittwunde. Nirgends ein Ausweg . . . Nur Wände, dort ein Zimmer, dahinter noch ein Zimmer, und alles voller Gerümpel und Staub, als hätte hier nie jemand gewohnt. In diesem alten Haus gab es außer dem Wintergarten gar keine bewohnten Räume – nur Trödel, Staub, Spinnweben, Tod . . .
    Aurora erblickte eine Wendeltreppe, die in den ersten Stock führte, und stürzte darauf zu. Mit blutverschmierter Hand umklammerte sie das Geländer. Sie konnte schon gar nicht mehr klar denken – ihr Verstand weigerte sich, das Offensichtliche zu akzeptieren.
    »Wo rennst du hin? Mir entkommst du nicht, Kindchen. Ich mache keine Fehler mehr . . .« Maria hatte sie eingeholt und zerrte sie mit aller Kraft die Treppe hinunter. Aurora wehrte sich, schrie. »Hör auf rumzukrakeelen . . . Außer uns ist sowieso niemand hier . . .«
    Aurora fiel und stieß sich an den Treppenstufen. Sie spürte einen scharfen Schmerz, es wurde ihr dunkel vor den Augen. Maria wich zurück und blickte sich in dem mit allerlei Gerümpel vollgestellten Zimmer fieberhaft um. Eine kaputte alte Stehlampe mit einem schweren Metallfuß fiel ihr ins Auge. Sie packte die Lampe mit beiden Händen, hob sie hoch und schlug damit wortlos, in wilder Wut auf Aurora ein, die gerade versuchte, wieder aufzustehen.
    Kolossows Telefonleitung war erst wieder frei, als Katja und Anfissa schon über den Ring hinaus waren. Bis Malachowka war es nur noch ein Katzensprung, Kolossow aber war weit entfernt. Katja hatte Glück gehabt – kaum hatte sie das Präsidium verlassen, hatte sie gleich ein Privattaxi erwischt, einen alten Wolga. Der Chauffeur allerdings, ein Rentner, wollte
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