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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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passiert? Was hat dich so erschreckt?«
    »Aurora hat mich angerufen.« Anfissa sprach schnell und verworren. »Wir hatten vor einiger Zeit verabredet, schon bei dem Essen im ›Al-Maghrib‹, dass ich Probeaufnahmen von ihr mache, für irgendeine Zeitschrift, eine Werbeaktion . . . Ich hatte es schon ganz vergessen, und heute gucke ich in meinen Terminkalender und sehe die Notiz: Um vier Aufnahmen mit Aurora. Und eben hat sie mich angerufen und gesagt, dass sie es heute nicht mehr schafft. Ich dachte erst, sie will sich nicht fotografieren lassen, weil sie nach all diesen Aufregungen schlecht aussieht. Aber sie hat gesagt, sie könne nicht zu mir ins Studio kommen, weil sie noch aufs Land fahren muss, zu einem wichtigen Termin, es geht um den Kauf einer Wohnung, sie trifft sich dort mit einem Immobilienmakler . . .«
    Katja lauschte ihrer Freundin und begriff vorläufig gar nichts – was für ein Termin? Was für eine Wohnung?
    Aurora fuhr nervös und unsicher. Kein Wunder, wenn man so selten wie sie am Steuer saß. Auch früher war sie nur gelegentlich selbst gefahren – Gussarow hatte einen Privatchauffeur, und sie war gewohnt, sich auf ihn und auf ihren treuen Onkel Kescha mit seinem alten, aber immer noch sehr soliden Volvo zu verlassen. Aber ausgerechnet jetzt lag Onkel Kescha mit Gallensteinen im Krankenhaus. Und diese Fahrt konnte Aurora nicht verschieben. Maria Potechina hatte angerufen, die treue, fürsorgliche Mariascha. Sie hatte sie daran erinnert, dass heute der letzte Termin für die Wohnung war. Der Immobilienmakler Mark Sitschkin, den Maria schon mehr als ein Vierteljahrhundert kannte und auf dessen Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit sie sich blind verließ, konnte die Wohnung, die er Aurora anbieten wollte, nicht länger reservieren.
    »Die Besitzer gehen in vier Wochen nach Kanada. Ihr Visum haben sie schon bekommen«, berichtete Maria. »Du verstehst, noch länger können sie den Verkauf nicht hinauszögern, sie müssen so bald wie möglich alle Papiere haben. Und es gibt mehrere Interessenten. Sitschkin hat mich angerufen, er kann sie nicht länger hinhalten. Du musst dich unbedingt mit ihm treffen und eine Entscheidung fällen. Ich rate dir, lass dir diese Chance nicht entgehen, Sitschkin ist derselben Meinung. Die Wohnung hat lauter Pluspunkte: vier Zimmer, ein großer Flur, zwei Toiletten, drei Loggien, und das mitten im Zentrum, das Haus ist ein ehemaliges Regierungsgebäude.«
    »Ich werde da sein, ganz bestimmt«, versicherte Aurora eilig. »Ich wollte sofort kommen, als du mir von dieser Wohnung erzählt hast, aber dann ist Kirill krank geworden.«
    »Gut, dann rufe ich jetzt gleich Sitschkin an. Er ist noch auf seiner Datscha in Malachowka – auf der Flucht vor der Hitze. Der Arme hat ja ein schwaches Herz, im Frühjahr hatte er einen Infarkt. . .« Maria seufzte. »Ich werde übrigens auch da sein. Ich hab zwar viel zu tun, eigentlich wollte ich auch noch zu meinem Sohn, zum Fußballspiel. . .«
    »Gleb hat heute ein Spiel?«
    »Ja. Ich habe schon Poljakow hingeschickt, falls ich es nicht mehr selber schaffe . . . Aber zu euch nach Malachowka komme ich bestimmt. Sitschkin ist zwar eine grundehrliche Haut, aber zwei Augenpaare sehen mehr als eines.« Marias Stimme klang munter und energisch. »Seine Datscha ist ganz leicht zu finden.« Sie beschrieb Aurora den Weg.
    »Danke, Mariascha, was würde ich nur ohne dich tun?«, sagte Aurora herzlich.
    Und nun war sie unterwegs nach Malachowka. Sie wurde ständig von anderen Autos überholt, man hupte sie an, man schnitt sie. Aurora wich jedes Mal aus. Sie wäre weit besser gefahren, wenn sie sich ausschließlich auf die Straße hätte konzentrieren können. Aber das wollte ihr einfach nicht gelingen. Im Rückspiegel sah sie ihr Gesicht – es kam ihr fremd und unbekannt vor. Dieser Major von der Kripo hatte also Gussarow verhört. . . Aber statt ihn festzunehmen, wie es angebracht gewesen wäre, verzettelte er sich mit irgendwelchem Bagatellkram, stellte ihr überflüssige, unverständliche Fragen . . . Wer sie am Tag nach dem Abendessen angerufen hätte, diesem verdammten Essen, das ihr ganzes Leben umgekrempelt hatte . . . Wozu? Was sollte das?
    Aurora dachte daran, mit welcher Angst sie in den letzten Tagen auf weitere Anrufe von Gussarow gewartet hatte. Wie gelähmt war sie gewesen. Aber Gussarow hatte sich nicht mehr gemeldet. Viele andere hatten angerufen, ja, aber wer, daran konnte sie sich jetzt schon nicht mehr erinnern, zu
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