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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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war. Die Mutter der Sängerin öffnete ihm die Tür.
    »Natascha ist gerade mit den Kindern im Hof«, teilte sie mit und studierte aufmerksam seinen Dienstausweis.
    Das hörte sich für Kolossow ziemlich sonderbar an. Es fiel ihm schwer, sich Aurora in der Rolle der jungen Mutter vorzustellen, die mit ihren Sprösslingen im Sandkasten spielt, besonders nach dem Gespräch mit ihrem Ex-Mann in der Villa mit Swimmingpool und Hauskapelle. Doch er fuhr gehorsam wieder mit dem Lift nach unten. Der Kinderspielplatz befand sich hinter dem Haus. Aurora saß auf einer niedrigen Bank, aber nicht am Sandkasten, sondern neben einem von Wind und Wetter ausgeblichenen, quietschenden Karussell, auf dem zwei Knirpse mit verkehrt herum aufgesetzten Baseballkappen voller Begeisterung im Kreis fuhren.
    Aurora hatte sich weit vorgebeugt und stieß das Karussell mit aller Kraft an, damit die vergnügte Fahrt nicht zum Stillstand kam. Gleichzeitig hielt sie ihr Handy ans Ohr gedrückt und telefonierte. Als das Gespräch beendet war, stand sie von der Bank auf. »Genug für heute, jetzt müssen wir wieder nach oben«, verkündete sie den Kindern laut.
    »Ein bisschen noch, Mama, nur noch ein bisschen!«, schrien die Jungen.
    »Nein, es reicht, es ist Zeit fürs Abendbrot. Die Oma wartet schon auf euch, und ich muss auch gleich los.« Aurora zog den kleineren Jungen vom Karussell und erblickte im selben Moment Kolossow.
    »Guten Abend«, sagte er. »Ich muss Sie noch einmal sprechen.«
    »Was ist passiert?« Aurora wurde blass. Alle Fröhlichkeit war wie weggewischt, in ihren Augen standen nur noch Ungewissheit und Angst.
    »Nichts Schlimmes«, antwortete Kolossow. »Ich muss Sie nur dringend sprechen, Aurora.«
    »Wird das lange dauern? Ich bin nämlich in Eile. Ich habe einen Termin wegen einer Wohnung.« Aurora schob die sich sträubenden Kinder zum Hauseingang. »Ach, übrigens, verstehen Sie etwas von Autos?«
    »Kommt drauf an.«
    »Ich habe einen Toyota Corolla. Irgendwas mit dem Rad ist nicht in Ordnung.«
    Aurora führte Nikita zu einem violetten, staubigen Corolla -kein neues Auto, aber noch sehr passabel aussehend.
    »Sind Sie eine gute Autofahrerin?«, erkundigte sich Kolossow, während er das rechte Vorderrad in Augenschein nahm.
    »Nicht besonders, ich fahre selten selbst.« Aurora beugte sich zu ihm hinunter, die Hände auf die Knie gestützt. »Na, wie sieht’s aus?«
    »Die Luft ist raus. Haben Sie ein Reserverad? Dann wechseln wir es.«
    Sie öffnete den Kofferraum, Kolossow holte Wagenheber und Reserverad heraus.
    »Es macht Ihnen hoffentlich nicht allzu viele Umstände«, sagte sie verlegen.
    »Kein Problem. Das haben wir gleich geschafft. Gestern war ich übrigens bei Ihrem Mann. Deswegen bin ich auch gekommen – wie ich es versprochen hatte.«
    »Hopp, ins Auto mit euch!« Aurora bugsierte die Kinder ins Wageninnere. »Wer ist Pilot und wer Steuermann?«
    »Ich, ich will Pilot sein!« Der Größere schubste seinen kleinen Bruder weg.
    »Nein, ich will fahren!« Der Kleine zwängte sich schnaufend und prustend hinter seinen Bruder auf den Fahrersitz. »Mama, sag ihm, ich will auch . . .«
    »Ich bin der Pilot. Dafür kannst du dann zu Hause Schneewittchen gucken.« Der Ältere wollte nicht nachgeben.
    »Schneewittchen will ich aber nicht«, plärrte der Kleine. »Die ist doch tot. Sie hat einen giftigen Apfel gegessen . . .«
    »Wollt ihr wohl still sein! Mach Platz für deinen Bruder. Du bist doch schon groß und vernünftig«, befahl Aurora. Widerwillig krabbelte der Ältere auf den Beifahrersitz und überließ dem Kleinen das Steuer.
    Kolossow hob den Wagen mit dem Wagenheber an und nahm das Rad ab.
    »Ihr Mann ist eine harte Nuss«, sagte er zu Aurora.
    Sie blickte schweigend die Kinder an.
    »Ehrlich gesagt«, fuhr Nikita fort, »würde ich Ihnen raten, für eine Weile wegzufahren.«
    »Ich kann aber nicht weg.« Aurora bückte sich und half ihm, das abgenommene Rad zur Seite zu rollen. »Ich muss mich um eine Wohnung kümmern, und dann war mein Jüngster krank, er ist gerade erst wieder auf die Beine gekommen, heute waren wir das erste Mal draußen. Ich kann jetzt unmöglich wegfahren – meine Mutter wird mit all diesen Dingen allein nicht fertig. Warum sagen Sie mir das überhaupt?« Sie schaute Kolossow aufgeregt an. »Haben Sie von meinem Mann irgendetwas erfahren?«
    »Nein. Aber sehen Sie . . . Ich will Sie nicht erschrecken.« Nikita schwankte: Sollte er es ihr sagen oder nicht? Und dann entschied er –
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