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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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brauste davon, hinüber zur Krim-Brücke, auf der Suche nach neuen Zerstreuungen. Sie blieben zu zweit zurück.
    »Hier, das habe ich mitgebracht, ich wollte es dir wiedergeben.« Sie hatte schließlich doch noch gefunden, was sie suchte, und zog ein Saffiandöschen aus der Tasche. »Die ganze Zeit habe ich versucht, dich anzurufen, ich habe dich überall gesucht und auf dich gewartet. . . Du warst nirgends zu finden, und da dachte ich, wenn ich hier auf dich warte, treffe ich dich vielleicht wieder so wie damals . . . Da, nimm deinen Ring zurück, ich brauche ihn nicht. . . Wenn du mich verlassen hast, will ich auch deine Geschenke nicht. . . Und aus deiner Wohnung werde ich ausziehen, denk bloß nicht. . . Sobald ich ein Zimmer gefunden habe, ziehe ich aus.« Sascha riss sich zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. »Und dann wollte ich dir noch sagen . . . Du warst im Unrecht, hörst du? Es war nichts. Ich hatte solche Angst, du hättest ihn meinetwegen umgebracht und müsstest dafür ins Gefängnis . . . Dabei hatte ich doch gar nichts mit ihm! Ich brauche überhaupt niemanden außer . . . Aber wenn du mich nicht mehr . . . Wenn du mich verlassen willst, dann nimm das zurück.« Sie drückte Poljakow das Saffiandöschen in die Hand.
    »Ich will dich nicht verlassen«, sagte Poljakow.
    Er schaute sich um, als wisse er nicht, wo er sich befinde, trat auf das Mädchen zu, hob es auf seine Arme und trug es zu seinem an der Ecke geparkten Wagen. Das »Al-Maghrib«, der mittägliche Trubel, die zehn Portionen Harira, das Werk seines ganzen Lebens – alles blieb zurück, verschwand und löste sich spurlos auf.
    Aber so war es richtig, nur so. Wie sein armes, verwundetes Herz es ihm eingab, das Herz eines Mannes, der seine Jugend schon lange hinter sich hatte. Vielleicht würde mancher sagen: wieder die gleiche Dummheit. Und wenn schon. Dummheit hält die Welt zusammen.
    Erst im Auto fragte Sascha erstaunt: »Warum trägst du denn so komische Sachen?«
    »Weil ich Koch bin«, antwortete Poljakow, trat aufs Gaspedal und fühlte sich plötzlich wieder jung. »Ich arbeite in einem Restaurant. Entschuldige, aber ich habe die ganze Zeit vergessen, es dir zu sagen.«
    Sobald Gussarow nach einem langen, aber für die Anklage trotzdem wenig ergiebigen Verhör die Staatsanwaltschaft verlassen hatte, wurde ein Bewacher auf ihn angesetzt. Beim Verhör waren auch Kolossow und Lessopowalow anwesend. Beide hatten das Gefühl, als würde in der Staatsanwaltschaft nur dieselbe Platte abgenudelt, die sie gerade erst gehört hatten.
    Am nächsten Morgen wurde Kolossow der Observierungsbericht auf den Schreibtisch gelegt. Nach dem Verhör war Gussarow gemeinsam mit seinem Anwalt in sein Büro am Prospekt des Friedens gefahren, hatte dann im Restaurant »Weiße Wüstensonne« zu Abend gegessen und war anschließend zurück nach Nemtschinowka gefahren, wieder zusammen mit dem Anwalt, der dort auch übernachtet hatte. Die Dechiffrierung von Gussarows Telefonaten am gestrigen Abend und folgenden Morgen war ebenfalls fertig. Zu den Leuten, die er angerufen hatte, zählten der Presseagent einer Band namens »Goblins«, die Gussarow mit Erfolg produzierte, eine bekannte Schlagersängerin, ein noch bekannterer Satire-Autor und eine Freundin von Gussarow namens Polina. Aus den Berichten war ersichtlich, dass der Observierte nicht versucht hatte, sich mit seiner Ex-Frau in Verbindung zu setzen und nach dem Verhör in der Staatsanwaltschaft nicht bei ihren Anwälten angerufen hatte, auch nicht in Pirogowskoje bei der Familie von Lena Worobjowa oder in dem Labor, in dem Juri Worobjow arbeitete.
    »Dir wäre es natürlich am liebsten, er hätte sich gleich ans Telefon gehängt«, sagte Katja, als Kolossow ihr die Berichte zeigte und die Aufzeichnung des gestrigen Gesprächs vorspielte. »Wir haben keine Beweise gegen ihn, Nikita.«
    »Hast du dir die Diskette angeschaut?«, fragte er mürrisch.
    »Ja. Ganz gewöhnliche Buchführung. Das ›Al-Maghrib‹ hatte eine Menge Ausgaben im letzten halben Jahr. Aber alle Rechnungen sind pünktlich bezahlt worden. Keine Schulden, keine Zahlungsrückstände. Eine geradezu vorbildliche Geschäftsmoral.«
    »Es bleibt uns vorläufig nichts anderes übrig als abzuwarten.« Kolossow nahm die Diskette wieder an sich. »Wir werden Gussarow weiterhin überwachen, ebenso das Restaurant und auch Aurora, wenn wir dafür die Erlaubnis bekommen. Ich habe mit Aurora gesprochen, und sie war mir gegenüber sehr offen. Sie
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