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Das zarte Gift des Morgens

Das zarte Gift des Morgens

Titel: Das zarte Gift des Morgens
Autoren: Tatjana Stepanova
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Marokko, am Hof der Nachkommen von Sultan Yussuf dem Zweiten, waren Palastrevolutionen an der Tagesordnung. Damals wurde eine ganze herrschende Dynastie vergiftet, um ein einjähriges Kind auf den Thron zu bringen, das später der große Herrscher Abu el-Khan wurde. Es starben alle neunundzwanzig Prinzen von Marrakesch und ein Großwesir. Sie alle hatten beim Bankett im Palast Mandeltörtchen mit kandierten Kirschen gegessen. Eben solche Mandeltörtchen wie diese hier.
    Der Mann mit der Kochmütze nahm den fertig gebackenen Teig aus dem Ofen. Die Schneidemaschine für Gebäck begann zu summen. Bald füllten die mit kandierten Früchten verzierten Törtchen eine tiefe Keramikschüssel mit verschnörkeltem maurischem Muster.

2
    Es war eine wunderbare Nacht. Der Rauch der Waldbrände, der Moskau seit zwei Monaten geplagt hatte, war verflogen, der Smogschleier hatte sich aufgelöst. Häuser, Ampeln, Neonreklamen, Autos und vor allem die Menschen, die Fußgänger, kamen wieder zum Vorschein – schwach und elend, zermartert noch von dem beißenden Gestank, verschreckt durch die düsteren Wetterprognosen, die eine erhebliche Erhöhung der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre vorhersagten.
    Moskau erwachte in dieser Nacht schüchtern zu neuem Leben. Endlich wehte der Westwind wieder und trieb den stickigen Smog zurück in die Sümpfe, in denen Torffeuer loderten. In Stolby, einem Vorort von Moskau, erwachten in dieser Nacht nicht nur die Menschen, sondern auch die Insekten zum Leben – Mücken, Schnaken, Zikaden. Nikita Kolossow, der Chef der Mordkommission im Moskauer Polizeipräsidium, bekam das als einer der Ersten zu spüren. Er hatte gerade das Milizrevier von Stolby verlassen und war in die warme Sommernacht hinausgetreten, eine Nacht, die von den Gesprächen der Polizeifunkgeräte und den lauten, siegreichen Trillern der Zikaden erfüllt war. Im hellen Licht des Scheinwerfers, der über dem Eingang zum Revier hing, tummelten sich die Mücken in ganzen Wolken. Ein paar besonders ausgehungerte Exemplare hatte Nikita bereits auf seinem Gesicht und Nacken erschlagen.
    In Stolby hatte er sich nicht zufällig bis spät in die Nacht aufgehalten. Ganz unverhofft hatte nämlich das Ministerium eine Revision angeordnet. Wie immer traf es hauptsächlich die Kripo. Stolby war ein Neubaugebiet – Hochhäuser aus Backstein und Beton, wohin man auch blickte. Der Bezirk hatte keinen schlechten Ruf, galt als ökologisch annehmbar, die Wohnungen hier waren nicht billig.
    Der Prüfer aus dem Ministerium war trocken und pedantisch bis zur Pingeligkeit. Nachts um halb zwölf äußerte er den Wunsch, sich das Untersuchungsgefängnis anzusehen. Dort befragte er die verschlafenen Insassen lange und umständlich über die Gründe für ihre Festnahme und ob sie mit den Haftbedingungen zufrieden seien. Anschließend nahm er noch die Garagen und die Hundezwinger in Augenschein, aber zu guter Letzt kam er doch noch zu der Einsicht, dass es schon spät war, und bat um einen Wagen nach Moskau.
    Der Chef des Milizreviers von Stolby, Konstantin Lessopowalow – für Kolossow schon seit zehn Jahren einfach Kostja -schlug vor, bei ihm zu Hause gemeinsam zu Abend zu essen, um die angegriffenen Nerven zu beruhigen. Lessopowalow Familie – seine Frau, die fünfjährige Tochter und die Schwiegermutter – waren wegen des Smogs auf die Datscha gezogen, daher konnten die beiden sich einen gemütlichen Junggesellenabend machen.
    Sie tranken und aßen mit Appetit, unterhielten sich über den Prüfer und darüber, was er wohl in seinem Inspektionsbericht schreiben würde, und gingen dann auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen.
    Lessopowalow wohnte im Ortszentrum, im siebten Stock eines Häuserblocks. Gegenüber befand sich ein neues neunstockiges Wohnhaus für gehobene Ansprüche mit geräumigen Loggien. Ein Teil davon war bereits, wie üblich, von den Bewohnern selbst verglast worden, aber einige waren noch offen. Zwischen den Häusern lag ein schmaler Hof, der mit jungen Bäumchen bepflanzt und dicht mit parkenden Autos zugestellt war.
    »Was willst du jetzt noch nach Moskau fahren, bleib doch bei mir«, bot Lessopowalow an. »Morgen ist ja Samstag. Du kannst auf dem Sofa schlafen. Das Sofa ist sehr bequem, meine Schwiegermutter schläft dort.«
    »Aber hier auf dem Balkon ist es so schön frisch, hast du nicht eine Klappliege?«
    Wirklich, dachte Nikita, was soll ich um halb drei Uhr morgens noch nach Moskau fahren? Es wird ja gleich schon
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