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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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Bier, das ich trank, meinte. Als wir keine vollen Bierflaschen mehr fanden, küssten wir uns. Nach diesem Abend schlief er meist in meinem Bett. Er presste seinen mageren Jungenkörper an mich und fragte, ob ich nicht Lust dazu hätte, akzeptierte aber mein Nein, erst etwas widerwillig, wie ein Kind, das nur bis acht Uhr aufbleiben darf, weil das Fernsehprogramm danach nichts für Kinderaugen ist, und schlief sofort ein. Ich lag noch wach, betrachtete seinen schlafwarmen Körper und es war gut. Am Morgen duschte er und lief den eineinhalbstündigen Weg zurück ins Nachbardorf.
    Meine Freundin schreckt auf, weil der Vorhang aus papiernen Perlen vor der Glastür raschelt. Doch es kommt niemand. Die Leute, die in den Lichtblitzen zwischen den Papierperlen erscheinen, gehen an der Tür vorbei. Pauls Geigenspiel hallt von den alten Steinmauern wider. Er spielt Bach. Ich soll eine weitere Geschichte erzählen, meine Freundin wartet. Aber heute fallen mir nur wahre Geschichten ein. Wir könnten die Perlen des Vorhangs aus eingerolltem Papier aufrollen. Wir könnten Depression spielen und die Platte mit dem alten Mississippi-Jazz, Tom Waits oder Charles Aznavour hören, auf der Couch herumliegen, Chips und Schokolade essen und vielleicht etwas weinen. Aber worüber sollen wir weinen?
    Gegen Abend wird die Hitze erträglicher, und wir stellen unsere Stühle in die Gasse vor der Haustür wie die Alten vom Dorf, die mit ihrem Strickzeug tagelang auf der Straße sitzen und sich erzählen, was man so sagt, und immer sofort verstummen, wenn wir vorübergehen, so dass wir nicht erfahren, was man so sagt über uns. Wir sitzen vor dem Haus, und da wir kein Strickzeug besitzen, erfinden wir uns welches. Am Fuß des Dorfes liegt der Étang in der Sonne wie eine glänzende Metallscheibe. Die Leute mustern uns und schütteln den Kopf. Morgen wird man es in der Bäckerei erzählen, die Alten werden es wiederholen wie die Litanei in der Kirche, die Spatzen werden es von den Dächern pfeifen.
    Wir gehen zu dritt durch das Dorf; vom kopfsteingepflasterten Platz vor dem kleinen Café und dem Dorfladen führt eine asphaltierte Straße durch den neuen Dorfteil, mit den lachsrosa und beigefarbenen zweistöckigen Flachdachhäusern, hinaus in die hügelige Landschaft. Meine Freundin hat die zwei alten Angelruten aus dem Keller geholt. Gemeinsam mit Paul hat sie die starren Fäden entwirrt und die rostenden Gewinde mit Speiseöl eingerieben. Die Stühle vor dem Café auf dem Dorfplatz sind nur spärlich besetzt, die Stammgäste und Dorfalkoholiker haben sich ins Innere der Bar verzogen und trinken Pastis oder Bier, draußen spritzen sich ein paar Kinder mit Wasserpistolen nass, und ein Touristenpaar in kurzen Shorts über sonnenverbrannten Beinen fotografiert den Brunnen, den ein berittener Bote aus grünlich verfärbter Bronze ziert.
    Der Dorfladen ist geschlossen. Der Inhaber, Jean-Marie, ist einen Monat vor unserer Ankunft gestorben. Beim Boule-Spiel auf dem sandigen Platz unterhalb des Nachbardorfes bekam er einen Herzinfarkt. Jean-Marie war ein ruhiger Mensch. Er war vielleicht sechzig Jahre alt und zu den Einheimischen freundlicher als zu uns. Über den Sportteil der lokalen Zeitung gebeugt, saß er hinter der Kasse seines dunklen, leicht schmuddeligen Ladens, ohne aufzublicken murmelte er eine Begrüßung, und wenn man nach etwas fragte, bewegte er sich ohne Eile und blickte einen an, als verlange man etwas Ungehöriges. Genau dies fehlte gerade im Sortiment. Aber außer uns und den Alten kaufte niemand im kleinen Dorfladen ein, alle fuhren in die großen Einkaufszentren, Géant, Lidl, Leader-Price an den Autobahnschleifen vor der Stadt. Also war Jean-Marie oft in der Bar gegenüber zu finden, und an der Ladentür stand: fermé .
    Vor den pastellfarbenen Häusern des neuen Dorfteils parken Autos, frischgeputzt strahlt das glänzende, zuweilen zerbeulte Metall der Sonne entgegen. Ein paar zigarettenrauchende Jungs hocken auf der Steinmauer neben dem Schild, das den Weg ins Nachbardorf anzeigt, und tuscheln. Sie entscheiden sich dafür, uns zu ignorieren.
    Das Gras ist braun vor Trockenheit, die gezackten Blätter der Reben, die den Straßenrand säumen, sind gelblich verfärbt. Die Reben sind prall mit unreifen hellgrünen Traubenkugeln behängt. An den buckligen Bäumen wachsen Granatäpfel und samtig grüne Mandeln. Der schmale Weg führt zwischen hochragenden Schilfstangen am Ufer des Étangs entlang, vorbei am Entenkäfig des verrückten
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