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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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die Wut. Ich sagte nur, dass sie alles mitnehmen könnten, und schloss dann vorsichtig die Tür hinter ihnen.
    Der Bruder sprach sehr lange, bis ein Piepston ihn unterbrach und die Computerfrauenstimme sagte, ich hätte keine weiteren Nachrichten.
    Ich bin ein fröhlicher Mensch, sagte mein lustiger Freund. Wir gingen den Kiesweg entlang der Gleise; leichter Regen fiel auf die Kapuzen unserer Regenjacken. Eigentlich bin ich ein fröhlicher Mensch, sagte mein lustiger Freund, ich mag das leichte Leben. Du bist immer traurig, sagte er zu mir, nicht sehr, aber immer ein wenig, ich hingegen bin ein lustiger Mensch.
    Der Hund ging vor uns her, hellbeige und struppig; alle hundert Meter blieb er stehen, schüttelte die Regentropfen aus dem Fell und drehte sich um, er konnte schlecht sehen im Dunkeln, vielleicht nahm er nur unsere Witterung auf. Der Hund wurde langsam alt. Verblassende Graffiti zogen sich über die Mauer, hinter den Gleisen lag ein Hochhaus, ein Bau aus mehreren schachtelartig zusammengefügten Klötzen, mit hellen und dunklen Fenstervierecken, kein Wolkenkratzer, dieses Haus berührte keine noch so tief liegende Wolke.
    Auch wenn wir uns viel erzählten, wusste ich wenig über ihn, dachte ich. Er hatte eine Ehefrau, die er wegen der Aufenthaltsgenehmigung geheiratet hatte, eine Freundin und andere Frauengeschichten, er hatte Philosophie studiert, in Istanbul, und zitierte oft Nietzsche, warum eigentlich Nietzsche, er arbeitete in einer Firma, die Mikrochips herstellt, neben der Technischen Universität, wo er, tagelang durchs Mikroskop blickend, winzige Drähtchen zusammenlötete, zwischen unzähligen anderen, in weiße Astronautenanzüge gehüllten Angestellten; sie könnten schon bald das menschliche Gehirn nachbauen, wenn es so weitergehe, sagte er. Alle zwei Wochen traf er sich in einem Lokal mit einigen Landsleuten, politisch war er nicht aktiv, wie er sagte. Eigentlich wusste ich nichts über ihn, wusste nicht, was er in all der Zeit machte, in der ich ihn nicht sah, ihn vergaß.
    Wir kamen zu dem Haus, in dem sie wohnte, die ehemalige Geliebte, die er nicht vergessen konnte. Immer und immer wieder kamen wir unter ihrem Balkon vorbei, jedes Mal, wenn wir mit dem Hund spazieren gingen. Diesmal brannte in einem der beiden Fenster Licht.
    Nach seinem Anruf verging über ein halbes Jahr, bis wir uns trafen, der Bruder meines lustigen Freundes und ich, man hatte sich wieder in das normale Leben eingeklinkt, die Zahnräder drehten sich ohne zu stocken weiter. Man vergaß es immer wieder, um immer wieder erneut ungläubig zu erschrecken, wenn es einem wieder einfiel, man wusste, dass es sich nicht ändern würde, man dachte nicht mehr nur daran. Wir verabredeten uns in der Bar, in der ich arbeitete, deshalb war ich froh, dass er, als ich eintraf, gleich wieder gehen wollte. Er schien etwas länger gewartet zu haben, auf der Theke stand ein Glas mit einem Rest Rotwein.
    Wir könnten auch in sein Atelier gehen, sagte er, nicht weit von hier, er habe da auch Wein und es sei ruhiger als hier. Wir gingen nebeneinander durch die abendlichen Straßen des sogenannten Rotlichtviertels, man musste aufpassen, dass sie nicht in einen hineinrannten, die blind durch die Straße laufenden Junkies und Dealer. Sugar, Cola, Methi, auf dem Asphalt zerbrochene Bierflaschen. Die Huren saßen mit groß gemalten Mündern hinter den Glasscheiben im schummrigroten Licht, ihre Brüste quollen aus den engen Tops. Die Freier blickten einem nicht in die Augen.
    An einem Kebabstand kaufte ich Zigaretten. Ich gab einer alten Bettlerin mit kurzgeschorenem Haar und irren Augen etwas Kleingeld, worauf sie uns Schutz und Segen der heiligen Jungfrau versprach und dass wir in den Himmel kommen würden. Tja, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, in den Himmel also. Er ging neben mir her, ich war sehr schweigsam, derart verwirrte mich sein Gesicht, das das Gesicht meines lustigen Freundes war, die krausen Haare, die, zwar grau durchzogen, die Haare meines lustigen Freundes waren, die lachfältchenumrandeten Augen, die immer leicht nach unten geneigten Mundwinkel und die übermäßige Betonung des Sch , wenn er sprach.
    Ich überlegte, was ich ihm sagen sollte, was ich wusste, aber was wusste ich schon. Glücklicherweise sprach er viel, von seinen zwei kleinen Töchtern, von seinen Schwestern, von seiner Mutter und immer wieder von ihm.
    Ich könnte die Geschichte von dem Fahrrad erzählen, das er mir geschenkt hatte, mein lustiger Freund,
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