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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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zerschlissenen Sofa in einer Ecke. Ich bin plötzlich unendlich müde, zu müde sogar, um mich zu fragen, wo denn Paul und meine Freundin sind. Der Junge mit der Telefonwerbung auf dem T-Shirt redet auf mich ein, ich verstehe nur das Übliche. Er versucht, seinen Arm um mich zu legen, aber mein Kopf liegt abgekapselt, so dass er den Arm wieder zurückzieht. Ich stehe auf und gehe langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, über die dünner gewordene Eisschicht zum Ausgang.
    Am nächsten Tag gehen wir schwimmen. Wir müssten doch endlich etwas unternehmen, sagt meine Freundin, sie könne dieses Rumsitzen nicht mehr aushalten. Wir sind jetzt über eine Woche hier. Das Meer ist zu weit, zu Fuß, der Bus, der einmal täglich Schulkinder, Dorfälteste und Behinderte in die Stadt und wieder zurück bringt, ist bereits morgens gefahren, im Étang gehen nur unwissende Touristen baden. Meine Freundin schlägt vor, ins nahe Schwimmbad zu gehen. Ich hasse Schwimmbäder. Da mir aber nichts Besseres einfällt und Paul auch nichts sagt, gehen wir ins Schwimmbad.
    Paul sitzt mir gegenüber und starrt an mir vorbei in das Blau des Schwimmbeckens. Er ist ganz blass, seine Haut sieht aus wie durchsichtiges Papier und wahrscheinlich fühlt sie sich auch so an, glatt und kühl. Aber das weiß ich nicht, ich habe meinen Bruder nie berührt, seit Jahren habe ich ihn weder umarmt noch geküsst oder auch nur seine kalte trockene Hand gehalten. Ich weiß nicht einmal, ob seine Hand kalt und trocken ist, ich kann es mir nur vorstellen.
    Meine Freundin sagt, sie gehe Eis holen; ich will eigentlich kein Eis, entscheide mich dann aber für Schokolade. Paul sagt Erdbeer. Der Kiosk ist auf der anderen Seite des Bades hinter dem Vergnügungspark und den Sportanlagen. Ich schaue meiner Freundin nach, die sich zwischen den auf Badetüchern liegenden, sich bräunenden Körpern hindurchschlängelt und bemerke, dass auch Paul ihr hinterhersieht. Paul steht auf und sagt: Ich gehe schwimmen.
    Ich stehe am Rand des Schwimmbeckens und blicke in das hellblaue Wasser, das nur so blau ist, weil der Boden und die Wände blau gestrichen sind. Alles scheint mir unwirklich, unecht, der schwindlig blaue südfranzösische Himmel, der zentimetergenau geschnittene Rasen unter den nackten Fußsohlen, auf den sie den weißen Körper meines Bruders gelegt haben, und all die Menschen in Badekleidern, die dort stehen. Sie haben einen Kreis gebildet um meinen Bruder und mich und um die beiden Bademeister, die neben Pauls Körper knien. Ich weiß nicht, ob ich in der Mitte des Kreises bin oder ob ich außerhalb stehe und nur zum Publikum gehöre, zu den Leuten, die herumstehen. Letzteres wäre mir lieber. Ich habe nichts gesagt. Ich bin eben erst hinzugekommen, weil ich den Knäuel Leute gesehen und das Geschrei gehört habe. Ich hätte nicht gedacht, dass es Paul ist. Paul kann schwimmen, Paul schwamm schneller und geschmeidiger als ein Fisch, früher. Ich habe eher an ein Kind gedacht, das sich ohne die orangefarbenen Schwimmflügel ins tiefe Becken gewagt hat, für einen kurzen Augenblick der Aufmerksamkeit seiner Mutter entschlüpft. Eigentlich habe ich gar nichts gedacht.
    Der Bademeister drückt nun mehrmals mit beiden Händen auf Pauls Brustkorb, wie sie es in den Filmen tun, wenn bei einem Patienten das Herz aufgehört hat zu schlagen, und der Monitor anstelle der Herzrhythmuskurve nur noch eine Linie anzeigt. Pauls Brust ist schmal wie die eines Mädchens, über die Rippen zieht sich die weiße Papierhaut.
    Eigentlich habe ich nichts denken wollen, doch als ich die Menschenmenge sehe, die sich um den leblosen Körper drängt, denke ich an Kupfersulfat. Kupfersulfat ist blau. Es besteht aus winzigen leuchtend blauen Kristallen, blauer als der Himmelszenit an einem strahlenden Sommertag wie heute. Kupfersulfat, so steht es im Chemiebuch, Kupfersulfat hat einen intensiven, säuerlich metallischen Geschmack, so dass eine unbeabsichtigte Aufnahme von toxisch relevanten Mengen kaum möglich sein dürfte. Dennoch sollte es, wie alle Chemikalien, vor Kindern gesichert werden.
    Die Bademeisterin drückt mit zwei Fingern auf Pauls Halsbeuge. Wahrscheinlich hat sie ihn rausgeholt, auf ihrer braunen Haut glänzen Wasserperlen. Ich denke an Baywatch . Weißer Strand, Palmen, eine leichte Brise, doch dann zieht ein Sturm auf und verfärbt das türkisfarbene Meer dunkel. Aber sie haben alles im Griff, sie werden mit ihren stählernen Gliedern die Wellen zerschneiden und werden
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