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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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orangefarbenen Wesen waren das Schönste, was wir je gesehen hatten. Aber wenn unsere Mutter sich zu heftig bewegte, bangten wir um das Fischleben des Kindes, jetzt war es zwar noch in seiner Seifenblase geschützt, aber es würde erfrieren an der kalten Luft, ersticken wie ein stummer Fisch, den man an Land gezogen hat.
    Und so taten wir den Schwur: Wir schworen, das Kind zum Mondsee zu bringen, zum Wasser, wo es hingehörte. Es war der zweite und letzte Schwur in unserem Leben. Beim ersten Schwur hatten wir uns die Handgelenke aufgeschnitten und geschworen, dass wir einander niemals verraten würden, den Mondsee, unsere Sprache und unsere Sünden, die noch leicht wogen, damals. Als wir das Blut miteinander vermischten, fiel Paul in Ohnmacht. Nach dem zweiten Schwur haben wir nie wieder etwas geschworen.
    Da Paul und ich Wasserkinder waren, gingen wir nicht nur an den sonnigen Tagen baden, ja, eigentlich waren uns sogar die Regentage die liebsten, wenn das Wasser des Himmels und das des Sees sich berührten und es keinen Horizont mehr gab. Der See hatte weder Zu- noch Abfluss, ein Moorsee, und nur aus Unverständnis des Wortes Moor nannten wir ihn Mondsee, er hieß nicht wirklich so. Wir wateten ins seichte Wasser, ließen den Schlamm zwischen den Zehen hindurchquellen, und unsere leichten Fußabdrücke füllten sich wieder, so dass der Boden schon nach einem Augenzwinkern aussah, als wäre nie jemand darübergelaufen. Die glänzenden Fischleiber schossen an uns vorüber und küssten unsere Zehen mit ihren Mündern. Das Wasser war weich und warm wie die Flüssigkeit im Bauch der Mutter, in der das Fischkind lebte. Das stehende Wasser hatte kaum Strömung und umschloss unsere Körper wie Öl. Eigentlich war es verboten, darin zu baden, da die mit Sonnencreme eingeriebenen Menschenleiber das Wasser noch öliger machten und die Fische zu sterben begannen. So patroullierte zeitweise ein Polizist am Seeufer, aber da wir Wasserkinder waren, bereit, unterzutauchen, sobald Gefahr drohte, war es beinahe unmöglich, unsere Haare vom Schilf zu unterscheiden und unsere geschmeidigen Kaulquappenkörper zwischen den Wellen auszumachen. Aber an den regnerischen Tagen blieben die sonnenhungrigen Menschen und auch der Polizist zu Hause.
    Der Regen trommelte auf unsere Köpfe, tropfte von den Haaren auf die mageren Schulterblätter, hielt beim Schlüsselbeinknochen kurz inne, um dann in kleinen Rinnsalen den ganzen Körper hinabzulaufen und sich mit dem Seewasser zu vereinigen. Wir schauten hinauf in den grauen Himmel, der Regen fiel in unsere Augen wie umgekehrte Tränen.
    Wir wurden selbst zu Wasserwesen, wie die Fische im Mondsee und das Kind, das im Bauch unserer Mutter schwamm. Ein einziger Sonnenstrahl, und wir wären verdunstet, und nichts wäre übriggeblieben.
    Wir durften unsere Mutter am Tag nach der Geburt des Fischkindes, das nun rot und verschrumpelt in einem Kasten lag, im Spital besuchen. Sie hatten ihr den Bauch aufgeschnitten, hatten das Kind herausgeholt und den Bauch wieder zugenäht. Weder bei Paul noch bei mir hatten sie den Bauch aufschneiden müssen. Weil das Kind nicht schrie und kaum atmete, musste es noch in den Glaskasten.
    Die Mutter lag in einem weißen Krankenhauszimmer in einem großen weißen Bett, dessen Höhe man automatisch einstellen konnte, mit weißen Neonlichtern und weißgekleideten Schwestern, die kamen, wenn man den roten Knopf drückte, den man nicht drücken durfte. Die Mutter konnte es nicht ertragen, dass das Kind im Glaskasten war und nicht bei ihr. Wir dachten, sie sei verrückt geworden; immer wieder heulte sie auf wie ein kranker Hund und schrie nach dem Kind, dann lag sie stundenlang reglos da und starrte in die Luft. Man konnte vor ihrem Gesicht herumfuchteln, ohne dass sie die Augen bewegte, sie zwinkerte nicht einmal. Sie war wieder dünn geworden ohne den Kugelbauch. Auch nachdem sie nach Hause durfte, ging sie jeden Tag ins Spital, zum Kind im Glaskasten, sie war ununterbrochen dort, nur in der Nacht schickten die Schwestern sie nach Hause.
    Paul und ich hatten uns schon fast daran gewöhnt, als das Kind nach Hause durfte. Wir fanden nicht, dass es zu wenig schrie. Unsere Eltern überhäuften es mit Geschenken, Teddybären und Liebe und fütterten es mit schlabbrigsüßem Brei. Es war plötzlich da. Immer. Überall.
    Unsere Mutter ging nun nicht mehr fort abends, und die Nachbarstochter mit den Groschenromanen sahen wir kaum mehr. Aber das bedeutete nicht, dass es besser wurde.
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