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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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Zeitverschiebung als eine Art Erkenntnis. Ida würde natürlich sagen, dass dies alles Quatsch ist, aber Ida kann sich auch vorstellen, wie man der Sonne entgegenfliegt und wie sich die Erde gleichzeitig um die Sonne dreht und wie die anderen Gestirne sich verhalten, zur Sonne, zur Erde und zum Flugzeug. Für Ida gibt es für alles eine Erklärung, während ich höchstens sagen könnte: Ich glaube es. Obwohl ich an nichts glaube, nur abergläubisch bin ich. Ich rede mir viel ein. Ich bin meine eigene Kassandra, ich sehe alles schwarz und glaube mir selbst niemals. Bis ich eines Besseren belehrt werde.
    Die dicke Katze vor dem Café Sankt Petersburg ist verschwunden. Die Katze ist ein alleiniges Tier, sagte der alte Russe, nachdem die Katze davongezischt war, als ich sie streicheln wollte. Es wird Frühling, sagen sie, ein neuer Frühling. Und ich frage mich, weshalb diese Endzeitangst auch nach dem Ende nicht vorbei ist. Ich werde Ida nicht anrufen.
    Nach dem Ende gingen wir ins Kino. Als könnte man nach dem Ende einfach ins Kino gehen und sich einen Endzeitfilm anschauen. Der Tag war still und grau, ein Sonntag, wir gingen nachmittags in das dunkle Kino hinein, dessen Wände mit schwarzem Filz ausgekleidet waren. Obwohl mit Blindheit geschlagen, sah ich Ida, ich sah Ida und mich daneben, im menschengroßen Spiegel. Wir sahen aus wie etwas an Land Gespültes, wie Sondermüll. Auf die Frage der Kassiererin, welchen Film wir denn sehen wollten, sagte Ida: den schlechteren. Die Kassiererin blickte erstaunt auf, aber Idas Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass sie überlegte, die Faust durch die Scheibe mit den kreisrund angeordneten Sprechlöchern zu schlagen, dass deren Scherben das Lächeln der Kassiererin zerschneiden würden. Also verkaufte die Kassiererin uns ohne Kommentar zwei Tickets für Armageddon . Ich habe mich nicht erkundigt, welcher Film der bessere gewesen wäre. Auch an Armageddon kann ich mich kaum mehr erinnern.
    Nach Filmende wurden wir wieder in einen grauhellen Tag entlassen, und Ida ging in die eine Richtung und ich in die andere, und niemand hat sich umgedreht. Niemand ist zur Salzsäule erstarrt, niemand wurde in die Unterwelt verbannt, ich bin nur still in die Katzenbachstraße zurückgekehrt. Nur manchmal wünschte ich mir, nicht hier zu sein. Nur manchmal denke ich, sie haben vergessen, die Katzenbachstraße zu bombardieren, die Katzenbachstraße und die Technische Universität und den Nebel dazwischen.

Demut
    Du hast doch keine Ahnung was Demut heißt, sagte er. Wir saßen in einer Kneipe, Lorenzen und ich; in der Kneipe, in der wir nach den Vorstellungen immer saßen. Die anderen Schauspieler waren schon nach Hause gegangen, auch ich hätte längst nach Hause gehen sollen, als Lorenzen begann, über Demut zu sprechen.
    Lorenzens schwerer Körper war auf dem Barhocker zusammengesackt, er stützte seinen großen, bärtigen Kopf mit beiden Ellbogen auf den Tresen. Alles schien groß an ihm, groß, massig und sanft.
    Lorenzen spielte den Philoktet im Stadttheater. Philoktet, das Kriegsopfer fern des Krieges. Lorenzen spielte Philoktet, den doppelt Betrogenen, mit seiner ganzen Körperlichkeit und dem Verdruss eines unendlich Müden. Philoktet war nicht Odysseus; Philoktet hatte Troja noch nicht einmal von weitem gesehen. Abgesehen von Lorenzens Philoktet war die Inszenierung schlecht, fand ich, doch mich fragte diesbezüglich niemand, ich gehörte nicht zum festen Ensemble, sondern half nur aus. Ich kannte den Regisseur, ich hatte mit ihm studiert, und er wusste, dass ich viele Stücke gelesen hatte, ja fast auswendig kannte. So saß ich hinter der Bühne und flüsterte dem Neoptolemos zu: Oh hätt ich Lemnos nicht gesehen, nicht Troja, oh wär ich keinen Schritt gegangen. Meistens hatte ich nichts zu sagen. Lorenzen vergaß seinen Text nie.
    Ich hätte längst nach Hause gehen sollen. Lorenzen hatte schon ein Bierglas auf den Boden fallen lassen, ich hatte die Scherben aufgesammelt, was Lorenzen peinlich war. Nicht das verschüttete Bier war ihm peinlich, sondern dass ich vor seinem Stuhl kniete und die Scherben zusammenkehrte. Auch der Kellner, dem ich das Kehrblech zurückbrachte, meinte, ich hätte das nicht tun müssen.
    Wir hatten über Literatur geredet, bevor Lorenzen begann, über Demut zu sprechen. Wir sprachen über Fatzer und Keuner, über Heiner Müller und Inge Müller, über den Klatsch und alles, wir hatten schon viel Bier getrunken. Er war wichtig, sagte Lorenzen, ein
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