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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs
Autoren: Jack Kerouac
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eins
    Ich begegnete Dean das erste Mal nicht lange, nachdem meine Frau und ich uns getrennt hatten. Damals hatte ich gerade eine schwere Krankheit hinter mir, über die ich hier nicht weiter reden will, außer dass sie etwas mit der elend lästigen Trennung zu tun hatte und meinem Gefühl, dass alles tot war. Mit Dean Moriarty begann der Teil meines Lebens, den man mein Leben unterwegs nennen könnte. Davor hatte ich oft davon geträumt, in den Westen zu gehen und mir das Land anzusehen, hatte vage Pläne geschmiedet – und war nie losgekommen. Dean ist der perfekte Kumpel für unterwegs, zumal er tatsächlich unterwegs geboren worden ist, als seine Eltern 1926 mit ihrer alten Karre auf dem Weg nach Los Angeles durch Salt Lake City kamen. Erstmals hörte ich von ihm durch Chad King; er hatte mir ein paar Briefe von ihm gezeigt, die Dean in einer Besserungsanstalt in New Mexico geschrieben hatte. Ich war ungeheuer interessiert an den Briefen, weil er darin so naiv und nett darum bat, Chad möge ihm alles über Nietzsche beibringen und all die wunderbaren intellektuellen Sachen, die Chad wusste. Irgendwann sprachen Carlo und ich über die Briefe und fragten uns, ob wir diesen seltsamen Dean Moriarty wohl je kennenlernen würden. All das liegt weit zurück, als Dean noch nicht so war, wie er heute ist, als er ein junger, geheimnisumwitterter Knastvogel war. Dann kam die Nachricht, dass Dean aus der Besserungsanstalt entlassen war und zum ersten Mal in seinem Leben nach New York kam; außerdem hieß es, dass er kürzlich geheiratet hätte, ein Mädchen namens Marylou.
    Eines Tages, als ich auf dem Campus herumhing, erzählten mir Chad und Tim Gray, dass Dean sich in einer Bude mit nur kaltem Wasser in East Harlem, dem spanischen Harlem, aufhalte. Dean war am Abend zuvor angekommen, das erste Mal in New York, mit seiner hübschen kleinen scharfen Mieze Marylou; sie stiegen an der 50th Street aus dem Greyhound-Bus und bogen um die nächste Ecke, auf der Suche nach einer Kneipe, wo man was essen konnte, und landeten direkt bei Hector’s, und von da an ist Hector’s Cafeteria für Dean immer der Inbegriff von New York gewesen. Sie gaben ihr Geld für wunderschöne Kuchen mit Zuckerguss und für Sahneteilchen aus.
    Und dauernd erzählte Dean Marylou solche Sachen: «Also, Schatz, hier sind wir in New York und obwohl ich dir nicht alles gesagt hab was mir so durch den Kopf ging während wir durch Missouri rollten und besonders in dem Moment als wir am Jugendgefängnis von Booneville vorbeikamen was mich an meine Knastprobleme erinnerte, ist es jetzt absolut notwendig all die offengebliebenen Fragen hinsichtlich unseres privaten Liebeslebens zu vertagen und sofort an konkrete berufliche Pläne zu denken …» und so weiter, eben in der Art, die er in jenen frühen Zeiten an sich hatte.
    Ich ging mit den Jungs zusammen zu dieser Kaltwasserwohnung, und Dean kam in Unterhosen an die Tür. Marylou hüpfte von der Couch; Dean hatte die Besitzerin der Wohnung in die Küche geschickt, anscheinend zum Kaffeekochen, während er sich um seine Liebesprobleme kümmerte, denn für ihn war Sex die einzige heilige und wichtige Sache im Leben, obwohl er sich plagen und schwitzen musste, um Geld zum Leben und so weiter zu verdienen. Das sah man schon daran, wie er dastand und mit dem Kopf wackelte, immer den Blick gesenkt und nickend wie ein junger Boxer, der sich Instruktionen anhört, sodass man meinen konnte, er lauschte jedem Wort, wenn er tausendmal sein «Ja ja» und «Richtig, richtig» einwarf. Mein erster Eindruck von Dean war der eines jungen Gene Autry – schmucker Bursche mit schmalen Hüften und blauen Augen und einem gewaltigen Oklahoma-Akzent –, ein kotelettengeschmückter Held aus der Schneewelt des Westens. Tatsächlich hatte er eben erst auf einer Ranch gearbeitet, bei Ed Wall in Colorado, bevor er Marylou heiratete und an die Ostküste kam. Marylou war eine hübsche Blonde mit einem gewaltigen Wuschelkopf, ein Meer von goldenen Locken; sie saß auf der Sofakante, ließ die Hände in den Schoß hängen und starrte mit ihren rauchblauen Naturkinderaugen vor sich hin, weil sie in einer dieser schlimmen grauen New Yorker Buden gelandet war, von der man ihr drüben im Westen erzählt hatte. Nun wartete sie wie eine dieser langgliedrigen, abgemagerten surrealistischen Modigliani-Frauen in einem düsteren Zimmer. Aber abgesehen davon, dass sie ein liebes nettes Mädchen war, war sie strohdumm und stellte die schrecklichsten
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