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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs
Autoren: Jack Kerouac
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Dinge an. An diesem Abend tranken wir alle Bier und zogen uns beim Armstemmen über den Tisch und redeten, bis der Tag anbrach, und am Morgen, als wir dumpf dasaßen und im grauen Licht eines trüben Tages Kippen aus den Aschenbechern rauchten, sprang Dean nervös auf, schritt nachdenklich im Kreis herum und fand dann, dass es angesagt sei, Marylou das Frühstück machen und den Fußboden fegen zu lassen. «Mit anderen Worten, Schatz, wir müssen uns jetzt ran am Riemen reißen, sonst kommen wir ins Schleudern und verpassen jede wahre Erkenntnis oder Kristallisierung unserer Pläne.» Das war der Augenblick, in dem ich wegging.
    In der folgenden Woche vertraute er Chad King an, dass er unbedingt von ihm schreiben lernen müsse; Chad sagte, dass ich Schriftsteller sei, er solle mich um Rat fragen. Inzwischen hatte Dean Arbeit auf einem Parkplatz gefunden, hatte mit Marylou Streit in ihrer Wohnung in Hoboken bekommen – weiß Gott, warum sie dorthin gezogen waren –, und sie war so wütend und von so tiefer Rachsucht, dass sie zur Polizei lief und eine falsche, hysterisch aufgebauschte, verrückte Anzeige erstattete, und Dean musste aus Hoboken verduften. Er wusste also nicht, wo er bleiben sollte. Er kam direkt heraus nach Paterson, New Jersey, wo ich bei meiner Tante wohnte, und eines Abends, während ich dort büffelte, klopfte es an der Tür, und da stand Dean und sagte unter Verbeugungen und verlegenem Füßescharren im dunklen Flur: «Hal-lo, erinnerst du dich an mich – Dean Moriarty? Ich komme, weil ich dich bitten wollte, dass du mir das Schreiben beibringst.»
    «Und wo ist Marylou?», fragte ich, und Dean sagte, sie hätte anscheinend ein paar Dollar zusammengehurt und sei zurück nach Denver gegangen – «die Hure!» Wir gingen also aus dem Haus und tranken ein paar Bier, weil wir vor meiner Tante, die im Wohnzimmer saß und ihre Zeitung las, nicht so reden konnten, wie wir wollten. Sie warf nur einen Blick auf Dean und fand, dass er ein Verrückter sei.
    In der Bar sagte ich zu Dean: «Verdammt, Mann, ich weiß ganz genau, dass du nicht nur zu mir gekommen bist, weil du Schriftsteller werden willst, und überhaupt, was verstehe ich schon davon, außer dass du dranbleiben musst, mit aller Kraft, wie ein Benzedrin-Süchtiger.» Und er sagte: «Ja, klar, ich weiß genau, was du meinst, und tatsächlich bin ich schon selbst auf diese Probleme gekommen, aber was ich will, ist die Erkenntnis all dieser Faktoren, die, wenn man sich von Schopenhauers Dichotomie für ein innerlich Erkanntes leiten lässt …» Und so weiter, in dieser Art, Dinge, von denen ich keinen Schimmer hatte und er selbst auch nicht. In jenen Tagen wusste er selbst nicht, was er da redete; mit anderen Worten, er war ein junger Knastvogel, völlig fixiert auf die wunderbaren Möglichkeiten, ein richtiger Intellektueller zu werden, und redete gern in einem Ton und unter Verwendung von Wörtern, wenn auch kunterbunt durcheinander, wie er es von «echten Intellektuellen» gehört hatte – obgleich er, wohlgemerkt, in allen anderen Dingen nicht so naiv war und nur ein paar Monate mit Carlo Marx brauchte, um in dem Jargon und all den Begriffen völlig zu Hause zu sein. Trotzdem kamen wir auf anderen Ebenen des Wahnsinns gut miteinander klar, und ich war einverstanden, dass er bei mir wohnte, bis er einen Job fand, und im Übrigen machten wir aus, irgendwann in den Westen zu fahren. Das war im Winter 1947.
    Eines Abends, als Dean zum Essen bei uns war – er hatte schon seinen Parkplatzjob in New York –, beugte er sich über meine Schulter, während ich munter drauflostippte, und sagte: «Komm schon, Mann, die Mädchen werden nicht warten, mach schnell.»
    Ich sagte: «Einen Moment noch, ich bin gleich da, sobald ich dieses Kapitel fertig habe», und es war eines der besten Kapitel in dem Buch. Dann zog ich mich an, und wir sausten los nach New York, um ein paar Mädchen zu treffen. Während wir im Bus durch die unheimliche phosphoreszierende Leere des Lincoln-Tunnels rollten, heizten wir uns gegenseitig an, fuchtelten mit den Händen, schrien und redeten aufgeregt, und mich packte allmählich das gleiche Fieber wie Dean. Er war einfach jung und ungeheuer vom Leben begeistert, und obwohl er ein Schwindler war, schwindelte er nur deshalb, weil er so gern mit Leuten zusammen sein und zu tun haben wollte, die ihn sonst nicht beachtet hätten. Auch mich beschwindelte er, und ich wusste es (von wegen Kost und Logis und «Schreiben lernen»
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