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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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vor einem Pferd. Dieses Ross, sagte mein Großvater, dieses Ross macht mir am meisten Angst. Er zeigte auf den dreieckigen Haltegriff, der über seinem Bett hing und an dem er sich mit knochigen Armen hochzuziehen versuchte, wenn die Schwestern das Leintuch wechselten oder wenn er nach Hause gehen wollte. Das Pferd erwähnte er immer wieder, er fürchtete sich vor all den Pferden, vor den Pferden im Zimmer, den Pferden auf dem Hügel und in den Wolken. Dieses Ross, insistierte mein Großvater und hielt mir das Plastikdreieck entgegen, warum ist da bloß dieses Ross hineingebaut? Da ist kein Ross, wollte ich sagen, doch ich sagte: Wenn dich das Pferd stört, dann sag ich denen, dass sie es wegnehmen sollen. Ach, wirklich, das würdest du für mich tun?, sagte mein Großvater und schien beruhigt.
    Eine Nachbarin sprach das Vaterunser und Gebenedeit seist du Maria unter den Frauen. Mein Großvater murmelte die Strophen mit, mit zahnlosem Mund. Dann sagte er: Elsbeth, schön, dass du hier warst, aber ich muss jetzt leider nach Hause gehen, ich bin schon viel zu lange hier in diesem Zimmer. Wir sollten ihm endlich seinen Mantel bringen, sagte er. Ich ging auf den Balkon und schaute den Gänsen im Garten des Altersheims zu und auf den bewaldeten Hügel hinter der Landstraße und den grauen Himmel darüber; da waren keine Pferde.
    Weißt du überhaupt, was Demut heißt, sagte Lorenzen. Unter seinen Augen hatte er einen Rest verwischte schwarze Schminke, was seinen Blick noch eindringlicher erscheinen ließ, seine Haare standen verschwitzt vom Kopf ab. Nur sein Körper schien zusammengesackt und in sich ruhend. Ich sah Philoktet, mehr als ich jemals Lorenzen in dem von ihm gespielten Philoktet sehen konnte. Philoktet wurde auf der Fahrt in den Trojanischen Krieg von einer Schlange gebissen und deshalb von den Gefährten, weil für den Kampf unbrauchbar, auf der Insel Lemnos zurückgelassen. Dort lebte er zehn Jahre, schoss sich Vögel aus dem Himmel und pflegte seine schwärende Wunde, während die Griechen vor Troja starben. Bis sich diese wieder an ihn und an Herakles’ unfehlbare Pfeile erinnerten.
    Ich wollte etwas erzählen, von dem Unwetter im Gebirge, als mein Bruder und ich noch Kinder waren, zerplatzenden Lichtgarben am Horizont, oder von dem Gewitter unter mir, als ich zum ersten Mal in einem Flugzeug saß und einen Moment lang glaubte, es sei Krieg da unten. Doch dies war lange her, und davon erzählte ich Lorenzen nichts.
    Letztens zum Beispiel, so erzählte ich Lorenzen, musste ich auf das Kind einer Freundin aufpassen. Das Kind hatte mich ausgewählt, als Jeanne fragte, wen es als Babysitter haben wolle, nannte es angeblich meinen Namen, ich war überrascht, dass es überhaupt meinen Namen kannte, aber vielleicht hatte Jeanne ihn dem Kind auch nur eingeflüstert. Ich hatte bisher wenig mit ihm zu tun gehabt, immer wenn ich Jeanne besuchte, war es im Hort, beim Vater oder schon im Bett, jedenfalls kannte es mich kaum. Jeanne kannte ich seit ewiger Zeit, wie es mir schien, wir hatten uns aber aus den Augen verloren, schon bevor sie das Kind gekriegt hatte. Ich kam in die Wohnung, die etwas zu farbenfroh eingerichtet war, wir aßen zusammen Abendbrot, das Kind war sehr aufgeregt, aß kaum etwas, sondern pustete mit einem Strohhalm Kartoffelpüree und Erbsen über den Tisch. Als Jeanne zu ihrer Verabredung ging, beachtete das Kind seine Mutter kaum, ignorierte ihre Küsse und die Wange, die sie ihm hinhielt. Lass uns spielen, rief das Kind, als sie weg war. Das Spiel ging so: Ich musste mich hinlegen und so tun, als würde ich schlafen. Dann musste ich Mama, Mama schreien, worauf das Kind angerannt kam und fragte, was denn los sei. Ich habe böse geträumt, musste ich darauf sagen und weinen, oder: Ich will eine Milch, und das Kind rannte abermals weg, kam wieder, streckte mir seine leere Hand hin und sagte: Hier, eine Milch. Das Spiel war angenehm, da ich unendlich müde war und beinahe tatsächlich eingeschlafen wäre. Doch das Kind protestierte, und ich musste es weiter rufen: Mama, ich hab Angst vor dem Gewitter, ich will, dass du mir ein Gutenachtlied vorsingst. Das Kind sang hastig: Der Mond ist aufgegangen, der weiße Nebel Wunden brach. Als ich das Kind zu Bett brachte, fiel mir auch nur das eine Lied ein, also sang ich es und wunderte mich, dass ich mich an alles erinnerte, bis zur letzten Strophe mit den Brüdern und dem kranken Nachbarn auch. Ich bin noch gar nicht müde, hörte ich das Kind sagen, und
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