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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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Kupfersulfatblau
    Als ich elf Jahre alt war, wollte ich sterben und schluckte das Kupfersulfat aus dem Kosmos-Chemiekasten, den mein Bruder zum Geburtstag bekommen hatte. Nachdem Paul die Herstellung von Plutonium nicht gelungen war, blieb der Chemiekasten unberührt unter seinem Bett liegen. Auch mein erster Versuch misslang. Ich nahm einen Löffel der leuchtend blauen Kristalle auf die Zunge. Kupfersulfat wirkt ätzend auf Haut und Schleimhäuten. Schlimm war nicht die schmerzende Zunge, nicht der Hals, Angina in fortgeschrittenem Zustand, sondern der Geschmack. Bitter, säuerlich, metallisch, es gibt kein Wort. Deshalb gelang es mir nicht, den zweiten Löffel hinunterzuschlucken, obwohl es mir ernst war mit dem Sterben und ich beschlossen hatte, Härte zu beweisen. Minuten später kotzte ich ins Waschbecken. Danach fühlte ich mich elend. Am nächsten Tag ging es mir besser, nur der Geschmack blieb. Er blieb erst im Hals, zwischen den Zähnen, dann noch im Kopf.
    Nach einer Woche beschloss ich, den zweiten Versuch durchzuführen. Ich blieb beim Kupfersulfat. Ich leerte den Inhalt von Pauls Aknekapseln, füllte sie neu, schluckte sie und wartete. Erst geschah nichts. Aber nach zwei Stunden kam es. So stark, dass ich mich am Badewannenrand festhalten musste. Ich wusste, dass das Sterben nicht einfach sein würde, also nahm ich es hin. Ich spürte das Kupfersulfat in die Kehle steigen und erbrach mich. Danach blieb ich lange auf dem kaltgefliesten Badezimmerboden liegen und wunderte mich. Wie nach einem Traum, in dem man in die Tiefe stürzt und doch noch rechtzeitig erwacht, kurz bevor man auf dem Boden aufschlägt.
    Meine Freundin und ich sitzen auf dem Sofa im Ferienhaus in Südfrankreich und spielen Einander-schlimme-Dinge-Erzählen . Die Kupfersulfatgeschichte ist nicht meine schlimmste Geschichte. Paul übt Geige im oberen Stockwerk. Das Spiel hat keine Regeln. Man darf lügen, übertreiben und verdrehen; Hauptsache, die Geschichten vertreiben die hochsommerliche Nachmittagslangeweile, die in der vor Hitze flirrenden Luft stillsteht wie die grünschimmernden Grillen, die im eintönigen Singsang des Altweibergeschwätzes mitschwingt und einen selbst zu ergreifen droht, den Rücken hinunterschleicht mit den Schweißrinnsalen, unbemerkt die Wirbelsäule entlang. Man sollte drinnen sitzen im kühldunklen Steinhaus, auch wenn alle sich fragen, warum man nicht an den Strand geht bei diesem Wetter, warum man denn sonst gekommen sei, wenn nicht wegen des Meeres. Man sollte drinnen sitzen, für dieses Spiel, bei einem Glas Wein oder einer Flasche, vin de table de la région, Flaschen ohne Etikett, kein Wein, der mit dem Alter besser wird, dieser Wein wird nur Essig. Dazu sollte man Zigaretten rauchen; unzählige, filterlose Gauloises, von denen man gelbe Zähne und Fingerkuppen kriegen würde wie die Alten im Dorf.
    Der Sommer ist heißer als normal, und die Hitze sollte noch zunehmen. Doch im kühlen Haus merkt man nichts davon. Eine fünfstufige Treppe trennt Küche und Eingangsbereich, gesäumt von zwei Säulen, auf denen zwei steinerne Katzen stehen, deren leere Augen zur Tür gerichtet sind. Es ist fünf Uhr nachmittags, wir sind gerade erst aufgestanden; der Schlaf war weiß und weich und leicht wie Watte. Alles ist nicht anders als anderswo, höchstens etwas verschoben. Wir erzählen uns schlimme Dinge, damit die Langeweile nicht kommt, während wir warten, bis vielleicht jemand kommen könnte oder bis etwas passiert.
    Hier passiert nie etwas. Jacques, der Dorfverrückte, bastelt seit zehn Jahren an einer Bombe aus Strandgut und Schrott, mit der er das Dorf in die Luft sprengen will. Bisher hat es nicht geklappt.
    Das Einzige, was je geschah, war der Waldbrand auf dem Hügel zwischen unserem und dem Nachbardorf im Sommer vor drei Jahren. Am selben Tag verliebten wir uns, meine Freundin und ich. In denselben Jungen. Der ganze Hügel brannte; Rauch lag in der Luft, und im Dorf war ein Geschrei, dann kamen Flugzeuge über den Étang. Wir kletterten aufs Dach, starrten ins Feuer und zählten die Flugzeuge. Hinter dem Hügel wohnte der Junge. Einer von denen, die vorbeikamen, schweigend an unserem Küchentisch herumsaßen und dann wieder gingen. Sie brachten Kassetten oder CDs mit eintönigem Techno, Spiraltribe , wie sie stolz erklärten, die wir auf volle Lautstärke drehten. Manchmal gingen wir grillen, aßen süße Crepes mit Marmelade oder quadratische Löschpapierstückchen, die LSD enthielten, wir tranken
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