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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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Mondsee, und wir sprachen auch nie wieder Rosam miteinander.
    Rosam war unsere geheime Sprache, die Waffe gegen den Kindergarten, der uns Bauchschmerzen verursachte, gegen die bösen Kinder, die den Fröschen die Beine aus dem Leib rissen und sie mit Fahrradpumpen aufzublasen versuchten, gegen unsere Eltern, die immer fortgingen am Abend. Man konnte sich nie sicher sein, ob sie wieder zurückkommen würden. Wenn sie fortgingen, war die Nachbarstochter da, die ganz enge Jeans trug und knallbunte T-Shirts über ihren Brüsten. Weil wir keinen Fernseher hatten, las sie Bücher, die Brennende Herzen hießen oder so, mit küssenden Paaren auf dem Umschlag. Die Nachbarstochter hieß Denise und sie scherte sich einen Dreck. Und wir waren uns nie sicher. Es konnte so viel passieren, Morde, Überfälle, Autounfälle oder dass das Haus abbrennt, und unsere Eltern zurückkommen, und da ist nichts mehr, weil wir alle verbrannt sind, Paul und ich und Denise. Oder Kriege, die plötzlich ausbrechen, oder Tschernobyl. Wir versuchten wachzubleiben, aber die Augen brannten vom Licht der Nachttischlampe, um die die lichtsüchtigen Mücken kreisten, bis ihre Flügel versengten und sie herabfielen. Oder wir versuchten, vor dem Einschlafen an all das zu denken, was passieren könnte, weil, wenn man ganz stark daran denkt, würde es nicht passieren, dachten wir. Wir dachten an brennende Häuser, an Unfälle und Morde und Messerstechereien, an Überschwemmungen, Kriege und Atomkatastrophen, aber die Liste wurde immer länger, und wir hatten Angst, etwas zu vergessen. Man konnte sich nie sicher sein. Irgendwann fanden wir uns damit ab, indem wir uns ein wenig von der Welt entfernten, etwas mehr als die anderen Leute. Wir sprachen Rosam , damit uns niemand verstehen konnte, und verbrachten die gleichförmigen Tage am Mondsee.
    Rosam war eine Sprache der Laute gewesen, nicht der Wörter, wir verstanden uns über die Sanftheit eines As, über das Kichern eines Is, über gurgelnde Wellen, das Trommeln des Regens und den Gesang der Fische unter Wasser. Es gab nur einige wenige festgelegte Wörter, doch damit konnten wir die ganze Welt erklären. Es gab zum Beispiel jatschiri für Schokolade, Baden im Mondsee, Geburtstag und Weihnachten zugleich. Uram bedeutete Nacht, Träume (nur die guten) und Märchen (auch nur die gut ausgehenden). Diese Worte wurden umspült von nicht festgelegten Lauten, wie ein großer Fels inmitten eines Flusses. Dann gab es noch bosch . Das Böse, all die schrecklichen Dinge, an die wir vor dem Einschlafen denken mussten, die anderen Träume, das Aufschrecken und weder schreien noch atmen können, als wäre man viel zu tief getaucht, bis an den Grund des Mondsees vielleicht. Die schwarzen Löcher im dunklen Zimmer, von denen man nicht wusste, in welche Welt sie einen fortlockten. Die zerplatzten Seifenblasen.
    Und als nach jenem Tag auch unsere Sprache bosch wurde und wir zu denken begannen, hörten wir auf, sie zu sprechen. Wir versuchten es zwar noch manchmal, in der Verzweiflung erfanden wir neue Wörter, die wir aufschrieben und mit ihrer deutschen Übersetzung versahen. Aber es gab viel mehr Wörter als Unglücke, die geschehen konnten, und an alle zu denken verursachte einen stechenden Schmerz im Kopf. So begann ich, Deutsch zu sprechen, und Paul begann zu schweigen.
    Früher war der Mondsee unser Zuhause gewesen. Wenn man uns nicht längst die wahren Tatsachen erklärt hätte, hätten wir behauptet, wir wären aus ihm geboren worden und nicht aus dem Bauch unserer Mutter. Die Zeit, bevor wir begannen, zum Mondsee zu gehen, lag hinter dem Nebel. Der See war der Anfang unserer Zeitrechnung, der Anfang des Lebens.
    Wir lebten noch in einem Zwischenraum, und das Kind, das den Bauch unserer Mutter in einen großen Ball verwandelte, war jatschiri . Es war jatschiri mit einem hohen Jauchzer, und die Freude in uns war so groß, dass wir unsere kurzen Arme bis weit nach hinten bogen, um das Ausmaß der Freude anzudeuten, wir dachten, die Arme müssten sich hinter dem Rücken kreuzen, damit ein Kreis entstünde, ein tausendmal hinter dem Rücken gekreuzter Freudenkreis. Und dieser Kreis füllte uns aus, dass wir uns fragten, warum wir nicht auch solch einen dicken Bauch bekämen und platzen würden vor lauter jatschiri .
    Wir wussten, dass das Kind zu dieser Zeit noch ein Fischleben führte, in einer Seifenblase, gefüllt mit weichem Wasser. Unsere Mutter zeigte uns ein Buch mit Embryobildern, und diese durchsichtigen
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