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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock
Autoren: T.C. Boyle
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Zwanzig Jahre lang, zwanzig öde, einförmige Jahre lang, die mit dem verschlafenen, beständigen Murmeln eines im Rinnstein dahinplätschernden Wasserlaufs an ihm vorbeirannen, bekam Stanley McCormick keine Frau zu Gesicht. Weder seine Mutter noch seine Schwestern noch seine Frau. Keine Krankenschwester, keine Bibliothekarin, kein Mädchen mit Zöpfen auf dem Weg zur Schule, keine alte Jungfer, die gerade ihre Veranda fegte, keine Hausfrau im Streit mit dem Gemüsehändler, keine Hure, keinen Backfisch und keine Suffragette. Es war nicht seine freie Entscheidung. Stanley liebte seine Mutter, seine Frau, seine Schwestern, er liebte auch anderer Leute Mütter, Frauen, Schwestern und Töchter, aber er liebte sie eben zu sehr, liebte sie mit einer glühenden Leidenschaft, die an Haß erinnerte, die von Haß nicht zu unterscheiden war, und dieses Lieben und Hassen brachte Unheil über ihn und stieß ihn kopfüber in eine Welt ohne Frauen.
    Mit neunundzwanzig heiratete er Katherine Dexter, eine Frau von Einfluß, Schönheit, Wohlstand und Ansehen, die ebenso kämpferisch und ungestüm war wie seine Mutter, mit einem herzzerreißenden Blick und einer Stimme so sanft und rein, daß sie wie ein Rauschmittel wirkte, und mit einunddreißig bekam er zum erstenmal den kalten Wolfsbiß der Fixierungsriemen zu spüren und betrat die einsame Welt der Männer. Damals war er innerlich ganz leer. Er war blockiert. Er sah Dinge, die nicht da waren, scheußliche, häßliche Dinge, Wesen aus dem Innersten seines Kopfes, die viel lebendiger waren als jedes Leben, das er je gekannt hatte, dazu hörte er Stimmen, die ohne Münder, Kehlen und Zungen sprachen, und jedesmal, wenn er aufsah, blickte er in das Gesicht eines Mannes.
    Die Jahre häuften sich an. Stanley wurde vierzig, dann fünfzig. Und während dieser ganzen Zeit hatte er nur Kontakt zu einem einzigen Geschlecht – zu Männern mit ihren haarigen Handgelenken und eiskalten Blicken, den rauhen Meckerstimmen, dem Mundgeruch und dem klebrigen Schweiß, der in ihren Bärten glitzerte und ihre Hemden unter den Achseln dunkel färbte. Als wäre er einer Studentenverbindung beigetreten, die nie das Haus verließ, als wäre er ins Kloster gegangen oder als marschierte er im Gleichschritt mit der Fremdenlegion durch endlose unwegsame Sanddünen, und keine Oase in Sicht. Und wie fühlte sich Stanley dabei? Das hatte ihn nie jemand gefragt. Bestimmt nicht Dr. Hamilton – ebensowenig Dr. Hoch und Dr. Brush und Dr. Meyer. Aber wenn er darüber nachdachte, wenn er auch nur eine Minute lang über seine merkwürdige, entbehrungsreiche Lage nachdachte, dann fühlte er eine alles verschlingende schwarze Kluft in sich aufbrechen, als würde er entzweigerissen wie ein siamesischer Zwilling, den man von seiner anderen Hälfte trennte. Er war ein Mann ohne Ehefrau, ein Sohn ohne Mutter, ein Bruder ohne Schwestern.
    Aber warum? Warum mußte das so sein? Weil er krank war, sehr krank, das wußte er. Und er wußte auch, warum er krank war. Es war ihretwegen, wegen dieser Huren, wegen der Frauen. Sie waren schuld. Und falls er seine Frau jemals wiedersehen sollte oder seine Mutter oder Anita oder Mary Virginia, dann wußte er genau, was er tun würde, so sicher wie morgens die Sonne emporsteigt und die Erde sich um ihre eigene Achse dreht: Er würde geradewegs auf sie zugehen, auf Katherine oder Mary Virginia oder die Frau des Präsidenten oder irgendeine von ihnen, und dann würde er ihnen zeigen, was ein richtiger Mann war, er würde sie dafür bezahlen lassen, ja, das würde er. So lagen die Dinge, und deshalb hatte er die letzten neunzehn Jahre in Riven Rock verbracht, auf dem fünfunddreißig Hektar großen Anwesen, das vom Geld seines Vaters erworben worden war, in seiner steinernen Villa mit den Gitterstangen vor den Fenstern und dem fest am Boden verschraubten Bett, mit Aussicht auf den stahlblauen Panzer des Pazifiks und die unnachgiebige Wand der Channel Islands – in seinem ureigenen Paradies, dem Ort, den keine Frau je schaute oder betrat.

Teil I
    Die Ära Hamilton

1
    Wie seine Hand
    Wie seine Hand mit ihrem Gesicht in Berührung kam – ihrem süßen, pausbäckigen, provozierenden kleinen Vollmond von Ehefrauengesicht, das jede Nacht auf dem ehelichen Kopfkissen den Platz neben dem seinen fand –, das war für O’Kane ebenso ein Rätsel wie die gefurchte Wölbung des Himmels und der Regen, der wie etwas Zorniges, Unausrottbares auf die erschöpfte Landschaft fiel. Es war nicht spät –
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