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Am Montag flog der Rabbi ab

Am Montag flog der Rabbi ab

Titel: Am Montag flog der Rabbi ab
Autoren: Harry Kemelman
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    Vom Sofa im Wohnzimmer, wo sie in die Sonntagszeitung vertieft saß, hörte Miriam, wie die Tür zwischen Windfang und Küche geöffnet und geschlossen wurde. «David?», rief sie und sagte, als ihr Mann hereinkam: «Mr. Raymond hat angerufen, gleich nachdem du weggegangen bist. Hörte sich an, als ob es wichtig wäre.»
    Rabbi David Small nickte und rieb sich die kalten Hände. Er durchquerte das Zimmer und stellte sich vor den Heizkörper. «Ich hab ihn in der Synagoge gesehen.»
    «Hast du keinen Mantel angehabt?», fragte sie.
    «Für die paar Schritte vom Wagen bis zur Gemeindesaaltür?»
    «Du bist den ganzen Winter über erkältet gewesen, vergiss das nicht.»
    «Nur eine Erkältung …»
    Rabbi Small war zwar bei guter Gesundheit, aber blass und mager. Die leicht vorgebeugte Haltung eines kurzsichtigen Gelehrten ließ ihn älter erscheinen als seine fünfunddreißig Jahre. Seine Mutter redete ständig auf Miriam ein, sie solle ihn anhalten, ordentlich zu essen.
    «Aber sie ist dir dafür den ganzen Winter geblieben … Was wollte er denn? Mit dir über den Vertrag sprechen?»
    Er schüttelte den Kopf. «Nein, er wollte mir mitteilen, dass der Vorstand beschlossen hat, diesmal zu Pessach keinen Gemeinde- Seder abzuhalten.»
    Sie sah, dass er erregt war. «Bis dahin sind es doch noch vier Monate.»
    «Viereinhalb Monate», berichtigte er. «Aber es dreht sich gar nicht um eine rechtzeitige Benachrichtigung. Er hat es mir gesagt, damit ich als Vorsteher der Religionsschule den Leiter informieren kann, dass er gar nicht erst anfängt, die Kinder auf ihre Aufgaben bei der Feier vorzubereiten … in der Armee heißt das dann ‹der Dienstweg›.»
    Der bittere Unterton entging ihr nicht. «Hat er gesagt, warum sie das beschlossen haben?»
    «Erst als ich danach fragte. Die Sache wäre uns in den letzten Jahren zu teuer gekommen», erklärte er.
    Sie sah zu ihm auf. «Ärgert dich das?»
    «Es ärgert mich, dass man nicht mal meine Meinung dazu eingeholt hat. Dass mich der neue Vorstand nicht mehr zu den Vorstandssitzungen einlädt – darüber bin ich hinweg, obwohl es sechs Jahre lang anders gehandhabt wurde. Aber die Frage wegen Pessach liegt so ausschließlich im Zuständigkeitsbereich des Rabbi, dass man eigentlich annehmen sollte, sie würden meine Meinung dazu gern kennen lernen. Wenn ich in solchen Dingen nicht entscheiden soll – wo soll ich dann eigentlich entscheiden? Bin ich hier bloß noch für das reine Zeremoniell zuständig? Glauben die vielleicht …»
    «Bist du wirklich sicher, dass das Absicht war, David?», fragte sie besorgt. Er war in letzter Zeit so reizbar. Sie versuchte, ihn zu besänftigen. «Sie sind doch noch neu; vielleicht ist ihnen einfach nicht klar …»
    «Neu! Sie sind jetzt drei Monate im Amt. Und wenn sie irgendwelche Zweifel haben, gibt es genug Leute, bei denen sie sich erkundigen können. Nein, es ist ihre ganze Einstellung. Sie haben alles unter sich, und ich bin bloß ein Angestellter. Denk nur an die Sache mit meinem Vertrag …»
    «Hat er den erwähnt?», fragte sie rasch.
    «Nein.»
    «Und du auch nicht?»
    «Ich habe darauf hingewiesen, bevor er ablief», sagte er steif, «und das sollte genügen. Erwartest du von mir, dass ich ihnen dauernd damit in den Ohren liege? Soll ich ihn ihnen abschwatzen?»
    «Aber du arbeitest ohne Vertrag.»
    «Na, und? Was heißt das?»
    «Das heißt, dass sie dich jederzeit rauswerfen können. Sie können dich binnen einem Monat kündigen mit der Begründung, dass deine Dienste nicht länger benötigt werden.»
    «Das könnten sie vermutlich. Und das Gleiche gilt umgekehrt. Ich könnte ihnen genauso kündigen.» Er lächelte spitzbübisch. «Der Gedanke ist verlockend.»
    «Ach, das tätest du doch nie.»
    Er begann auf und ab zu wandern.
    «Warum nicht? Wenn ich’s recht bedenke, wäre das eine gute Idee. Was würde ich verlieren? Die paar Monate bis zum Jahresende? Wenn sie mir bis jetzt keinen Vertrag gegeben haben, kann das nur bedeuten, dass sie nicht beabsichtigen, mich im nächsten Jahr weiterzubeschäftigen. Aus welchem anderen Grund haben sie nicht mit mir darüber gesprochen? Warum sonst haben sie mich nicht gebeten, an den Vorstandssitzungen teilzunehmen? Und das heute – mir einfach zu sagen, sie würden keinen Gemeinde- Seder abhalten. Ja, ich bin überzeugt davon, dass sie genau das vorhaben. Ich soll für den Rest des Jahres sämtliche Aufgaben erledigen – Trauungen, kleine Reden zu Bar Mizwa , die Predigt am
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