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Am Montag flog der Rabbi ab

Am Montag flog der Rabbi ab

Titel: Am Montag flog der Rabbi ab
Autoren: Harry Kemelman
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sie an. «Erinnerst du dich an das letzte Pessach ? Damals waren wir überzeugt davon, hier sei alles aus und vorbei. Und wir beschlossen, anstatt gleich auf Stellungssuche zu gehen, zunächst nach Israel zu fahren. Weißt du noch?»
    «Na und?»
    Der Anflug eines Lächelns überzog sein Gesicht. «Na, und warum tun wir es nicht? Wenn sie mich binnen eines Monats feuern können, wieso kann ich dann nicht genauso binnen vier Wochen kündigen?»
    «Du meinst, du willst deine Stellung aufgeben?» Sie war sichtlich erschrocken.
    «Nicht unbedingt aufgeben. Ich könnte ja um einen Urlaub bitten.»
    «Und wenn sie ihn dir nicht bewilligen?»
    «Dann würde ich ihn trotzdem nehmen. Ich bin müde und habe diese Stadt gründlich satt. Ist dir eigentlich klar, dass wir seit sechs Jahren hier sind und ich in der ganzen Zeit keine Ferien gehabt habe? Im Sommer ist viel weniger los. Die Religionsschule ist geschlossen, es gibt keine Feiertage und keinen Gottesdienst am Freitagabend. Nur Trauungen und Bar Mizwas oder Kranke, die mit meinem Besuch rechnen. Trotzdem waren wir bloß gelegentlich mal übers Wochenende fort, weiter gar nichts. Ich muss weg – irgendwohin, wo ich eine Zeit lang für mich sein kann.» Er lächelte. «Und in Israel wäre es warm.»
    «Wir könnten ja eine von diesen Drei-Wochen-Reisen buchen», überlegte sie. «Die Sehenswürdigkeiten besichtigen und …»
    «Ich will keine Sehenswürdigkeiten besichtigen», unterbrach er sie. «Das sind entweder neue Bauten oder die Überreste von alten oder Erdlöcher. Nein, ich möchte eine Zeit lang in Jerusalem leben. Wir Juden haben uns jahrhundertelang nach Jerusalem gesehnt. Jedes Jahr sagen wir zu Pessach und Jom Kippur : ‹Nächstes Jahr in Jerusalem.› Am vorigen Pessach war es uns Ernst damit. Wir dachten wirklich, dass wir fahren würden. Ich zumindest. Na, und jetzt ist unsere Chance. Ich habe keinen Kontrakt, der mich bindet.»
    «Aber der Vorstand würde das als Kündigung auffassen, und seine Stellung aufzugeben …»
    «Und was wäre, wenn sie’s täten? Wir sind noch jung und können es uns leisten, das Risiko einzugehen.»
    Miriam musterte ihn besorgt. «Und für wie lange?»
    «Ach, das weiß ich nicht», entgegnete er leichthin. «Drei, vier Monate, vielleicht länger. Jedenfalls lange genug, um das Gefühl zu bekommen, wir haben in Jerusalem gelebt und waren nicht nur auf Besuch.»
    «Und was würdest du dort tun?»
    «Was tun andere Leute dort?»
    «Nun, die Bevölkerung arbeitet. Und die Touristen sind unentwegt mit der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten beschäftigt …»
    «Also wenn du dir darüber Gedanken machst, womit ich mir die Zeit vertreiben würde, dann könnte ich ja meinen Aufsatz über Ibn Esra für das Quarterly fertig stellen. Die wissenschaftlichen Vorarbeiten habe ich hinter mir; meine Notizen sind komplett. Was ich jetzt brauche, ist viel Zeit zum Schreiben, ohne ständige Unterbrechungen.»
    Sie sah ihn an. Er machte dasselbe eifrige Gesicht wie der kleine Jonathan, wenn er um etwas ganz Besonderes bat. Außerdem spürte sie, wie dringend er diese Reise brauchte. «Das ist dir doch nicht eben erst eingefallen, David. Du denkst schon eine ganze Weile daran, nicht wahr?»
    «Mein ganzes Leben lang.»
    «Nein, ich meine …»
    Er hielt ihren Blick fest. «Als es letztes Jahr so aussah, als würde ich hier aufhören, dachte ich, wir könnten fahren, bevor ich mit der Suche nach einer neuen Stellung anfing. Wann würden wir sonst wieder die Gelegenheit bekommen? Und als sich dann herausstellte, dass ich meinen Posten behielt, hätte ich wohl froh darüber sein sollen, weiter mein Gehalt zu beziehen. Aber ich war es nicht. Ich hatte mein Herz an diese Reise gehängt – und jetzt kann ich den Gedanken daran nicht mehr loswerden.»
    «Aber dafür eine Stellung aufzugeben …»
    «Nach unserer Rückkehr werde ich eine neue finden, verlass dich darauf. Außerdem sieht es ganz so aus, als wäre ich nächstes Jahr sowieso nicht mehr hier.»
    Sie lächelte. «Gut, David, ich schreibe an Tante Gittel.»
    Jetzt machte er ein erstauntes Gesicht. «Was hat die denn damit zu tun?»
    Miriam legte die Zeitung ordentlich zusammen. «Ich bin dir bei jeder wichtigen Entscheidung gefolgt, David. Als du die Stellung in Chicago, die so viel Geld einbrachte, gekündigt hast, weil dir die Gemeinde nicht passte, war ich einverstanden. Und das, obwohl wir von meinem Stenotypistinnengehalt lebten und von dem, was du durch Gelegenheitsarbeiten in den
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