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Rabenblut drängt (German Edition)

Rabenblut drängt (German Edition)

Titel: Rabenblut drängt (German Edition)
Autoren: Nikola Hotel
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Schaumzähne
     
     
     
    M ein Gefieder sträubte sich, und mein Herz schlug schneller. Der Wolf war unser Freund, und ich vertraute ihm. Aber trotz dieses Wissens hob und senkte sich meine Brust in immer kürzeren Abständen.
    Ich lockerte meinen Griff um den Zweig und trat vorsichtig einige Schritte die Astgabel entlang. Zwischen den Baumwipfeln spannte sich der Nebel wie dickes Tuch. Tief sog ich die kühle Luft der Morgendämmerung ein.
    Ich lauschte nicht nur auf die Geräusche des anbrechenden Tages, horchte nicht allein, sondern erfühlte mit meinem ganzen Sein jede kleinste Regung auf der Lichtung vor mir: das Knistern des Laubes, das Flüstern des Windes, wenn er sich am Widerstand eines anderen Lebewesens brach.
    Und es gab wahrlich genug Geräusche. Dieser Herbst war ein Jahrmarkt. Ein buntes Karussell wispernder Stimmen und trippelnder Pfoten. In vielen Fällen brachte dieser Lärm das Überraschungsmoment auf unsere Seite. Aber genauso konnte er alles verderben, mit einem einzigen unbedachten Schritt.
    Im Moment war der Morgen noch still. Doch die Dunkelheit täuschte mich nicht darüber hinweg, dass bald die ersten Sänger den Tag begrüßen würden.
    Ein lautes » Kroak « ließ mich zusammenfahren und brachte meinen Zweig zum Wippen. Sofort suchte ich alle Seiten ab.
    » Chii! « Ein langer Schrei floh über die Baumwipfel. Ich zwinkerte erleichtert - das war unverkennbar Pavels Stimme. Ein Flattern, ein leichtes Schwirren im halbkahlen Blätterdach, und ich lokalisierte ihn wenige Ruderschläge entfernt. Ruckartig schlug ich meine Flügel nach hinten und startete senkrecht in die Luft. Einige kurze Aufschläge, und ich gewann so viel an Höhe, dass der Zweig auf dem ich eben noch gesessen hatte, mit der Masse der Bäume unter mir verschmolz. Ich glitt direkt neben Pavel auf den höchsten Ast einer Roteiche. Zur Begrüßung stupste er mich mit seinem Schnabel an.
    »Eulengleich, lieber Alexej! Nahezu eulengleich!«, neckte er mich.
    Doch ich war nicht in der Stimmung zu scherzen. »Wo sind die Anderen?«
    Pavel zupfte seine Brustfedern zurecht. »Darius und Laszlo treffen die Jungs unweit der Weide, bei der wir letztes Frühjahr Teile dieser Hirschkuh versteckt haben. Erinnerst du dich?«
    »Natürlich.«
    »Sie haben sich mit dem Staubgrauen abgesprochen. Raban bleibt bei ihm und warnt uns, wenn der Angriff startet.«
    Ich nickte. Raban würde den Wolf keine Sekunde aus den Augen lassen, denn wir kannten diesen Jäger noch nicht lange genug.
    Der Staubgraue war ein mittelgroßer Einzelgänger. Es war ungewöhnlich, dass ein Wolf allein jagte, aber er war ein Pionier in dieser Gegend, auf der Suche nach einem Weibchen, mit dem er sein eigenes Rudel gründen konnte. Seine Wanderung hatte ihn über das Riesengebirge bis hierher nach Böhmen geführt. Er war hungrig.
    Und jetzt würde er unser Dosenöffner sein.
    Tagelang hatten wir die Strecke beobachtet, die der Wanderhirte mit seinen Schafen zurücklegte, einer großen Herde mit mindestens hundertzwanzig Muttertieren. Es waren Schwarzköpfe. Große, breitschultrige Schwarzköpfe mit dichtem, fettigem Fell, das es unseren Schnäbeln unmöglich machen würde, die zarte Haut darunter zu durchdringen. Deshalb würde der Staubgraue es für uns aufbeißen. Er würde sich satt fressen und weiterziehen, und wir wären in den nächsten Stunden damit beschäftigt, die Beute in sicheren Verstecken unterzubringen.
    Die Vorfreude ließ mich erbeben. Und doch: Da war dieses Gefühl der Gefahr. Ein Flattern in meinen Eingeweiden wie das hysterische Surren eines Hummelschwebers oder das Gefühl auf zwei Beinen zu gehen, ohne den Schutz meiner Flügel, die mich jederzeit in luftige Höhen retten konnten. Aber diese Erinnerung scheute ich.
    Sollte ich Pavel von meinen Befürchtungen erzählen?
    Ich überlegte nur kurz: Pavel kannte nur jugendlichen Leichtsinn. Er würde mich aufziehen und meine Vorsicht als Angst verspotten. Und Angst war ein menschliches Gefühl, viel zu menschlich für meinen Geschmack.
    »Was ist mit den Hütehunden?«, fragte ich stattdessen. »Was haben die Jungs als Ablenkungsmanöver geplant?«
    »Das Übliche. Lautes Getöse, ein Scheinangriff auf ein paar Lämmer.« Pavel gluckste. »Die fahren voll auf diese Hitchcocknummer ab.«
    Die freudige Erregung, die ihn erfasst hatte, machte mir bewusst, wie kindlich er noch war. Ob es richtig war, ihn bei dieser Beutetour dabei zu haben? Und wie oft hatte ich mir diese Frage in den letzten Tagen
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