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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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sie retten, die Verlorenen, bevor die Folge zu Ende ist. Ich hingegen hätte nicht gewusst, was zu tun wäre, Bewusstlosenlagerung, Beatmung, Herzmassage, gibt er Antwort – atmet er – blutet er – ist der Puls normal? Ich hätte nichts mit dem bewusstlosen Bruderkörper anzufangen gewusst.
    Die Leute diskutieren auf Französisch, ich verstehe kaum etwas, wegen des Rauschens in meinen Ohren. Als sie mir damals sagten, dass man in den großen schneckenförmigen Muscheln, die wir auf italienischen Souvenirmärkten gekauft hatten, nicht das Meer rauschen hört, sondern das eigene Blut im Innern des Kopfes, ist mir übel geworden.
    Der Bademeister hat aufgehört mit der Beatmung. Paul beginnt, zu würgen und Wasser zu spucken, sein magerer Körper bäumt sich auf und schnappt nach Luft, wie die Kaulquappen, nachdem sie Frösche geworden sind und beginnen, Luft zu atmen. Als wir Kinder waren, fingen wir die Kaulquappen des nahen Moorsees in der hohlen Hand, glitschig kribbelten sie zwischen den Fingern. An sonnigen Nachmittagen trieben sie in riesigschwarzen Schwärmen über den algenbewachsenen Steinen im seichten Wasser, und man musste nur hineingreifen, um eine reiche Beute zu erwischen. Paul schaffte immer mehr als ich. Wir füllten sie in Gläser, nahmen sie mit nach Hause und schauten zu, wie sie sich in Frösche verwandelten. Ein Wunder geschah in den Kompottgläsern unter unseren Betten.
    Weißgekleidete Sanitäter drängen sich durch die Menge. Paul hat die Augen nun geöffnet, sein Brustkorb hebt und senkt sich. Die beiden Sanitäter heben ihn auf eine Trage. Durch das Rauschen des Blutes in meinen Ohren dringt die Frage zu mir, ob ihn jemand kenne, den jungen Mann, der soeben beinahe ertrunken sei. Ich bin die Schwester . Der Satz liegt unhörbar hinter dem Rauschen.
    Die Leute zerstreuen sich langsam, gehen diskutierend zurück zu ihren Badetüchern, die wie farbige Flecken auf dem Grün des Rasens liegen. Kaum jemand geht zurück ins Wasser, als sei man plötzlich wasserscheu geworden. Ich denke, dass Paul gar keine Kleider haben wird, wenn sie ihn aus dem Krankenhaus entlassen; denke an die weißen Spitalnachthemden, die hinten offen sind. Meine Freundin kommt zurück mit zwei Schokoladen- und einem Erdbeereis und fragt, was los war.
    Wir hatten die kleinen Frösche immer zum Seeufer zurückgebracht. Nur einmal, als wir nach Italien fuhren, ans richtige Meer , vergaßen wir in der Eile und der nevösen Aufregung die Gläser der letzten Kaulquappengeneration unter unseren Betten. Als wir zurückkamen, das Bild des richtigen Meeres noch vor Augen, schwammen die aufgedunsenen gräulichen Froschleichen an der Wasseroberfläche.
    Ein paar Leute sind stehengeblieben und diskutieren mit einem Bademeister. Man hätte auch nicht gedacht, dass der nicht schwimmen kann, sagt der Bademeister und grinst. Ich blicke an ihnen vorbei zum Schwimmbecken, das kupfersulfatblau leuchtet im Licht der Nachmittagssonne. Ich hätte nicht gedacht, dass man Schwimmen verlernen kann.

Der Bruder
    Er rief mich an, weil ich die letzte war. Die letzte Telefonnummer, am vierzehnten April, Samstag, um drei Uhr sechsundfünfzig frühmorgens, auf der detaillierten Rechnung, die die Telefongesellschaft dem Bruder meines lustigen Freundes geschickt hatte. Sechsundachtzig Franken und zwanzig Rappen verlangten sie für den letzten Mobiltelefonmonat meines lustigen Freundes. Rechnungen müssen bezahlt werden, selbst wenn die Welt aus den Fugen gerät, für einen kurzen Lidschlag nur, im Vergleich zu den Jahrmillionen regelmäßiger Drehung um den großen Stern. Und niemand weiß von der längeren Dauer des Nachbebens, niemand bemerkt die daraus resultierende leichte Verschiebung des Planetensystems. Der Bruder meines lustigen Freundes sprach mir auf die Mailbox, sagte, dass meine Nummer die letzte sei auf der Rechnung, um drei Uhr sechsundfünfzig, zwei Stunden vor Eintreten des Todes um sechs Uhr früh.
    Ich kannte den Bruder meines lustigen Freundes nicht gut, ich hatte ihn zuvor nur auf der Beerdigung gesehen und als er die Sachen in unserer Wohnung abholte, gemeinsam mit all den weinenden und wehklagenden Frauen, die ein Kopfkissen, ein Buch, einen Pullover umklammerten und mit Tränen und Küssen übersäten. Zwischen dem Gewusel von Schwestern, Müttern und Großmüttern stand still die Freundin meines lustigen Freundes. Sie betrachtete mich misstrauisch, als könnte sie mir etwas ansehen. Das Weiß in ihren trockenen Augen leuchtete wie
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