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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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das Fahrrad, das er mir ausgeliehen hatte, drei Tage vor seinem Tod. Ich hatte ihm den Schlüssel zurückgeben wollen, doch er meinte, er brauche das Fahrrad nicht mehr. Vielleicht hatte er auch gesagt, ich könne den Schlüssel vorläufig behalten und das Fahrrad benutzen, vielleicht hatte er gesagt, gib mir den Schlüssel ein andermal. Wenn man sich nur erinnern könnte, was jemand gesagt hatte, an den Wortlaut, die Intonation vielleicht. Wenn es etwas festzuhalten gäbe, eine Silbe, ein Wort, eine Bedeutung.
    Das Fahrrad stand danach im Keller, irgendwann einnerte ich mich daran, ohne es je vergessen zu haben, und ich fuhr einkaufen. Mit zwei Tragtaschen behangen, kämpfte ich mit der Gangschaltung, ich hatte nie solch ein gutes Fahrrad besessen. Als ich über die Eisenbahnbrücke fuhr, riss ein Mann mich vom Sattel. Ich fiel auf die Knie, die eine Papiertasche zerriss und ein paar Äpfel rollten auf die Straße. Es war der Besitzer des Rades, das ihm, einem jungen, sehr wütenden Mann, vor fünf Jahren gestohlen worden sei. Ich überließ ihm das Fahrrad kampflos, ich lag längst müde am Rand des Schlachtfeldes.
    Es war eisig im Atelier, an den schlecht verglasten Fenstern Spuren von Eisblumen, und die Flasche Wein, Rioja, sei auch viel zu kalt, entschuldigte sich der Bruder meines lustigen Freundes. Er besaß ein einziges Glas, das er randvoll füllte, er selbst trank aus der Flasche und fragte mich erst nach einem großen Schluck, den Mund mit dem Ärmel abwischend, ob mich dies stören würde. Ich verneinte. Der Gasofen funktioniert nicht, sagte er, ich werde einen Elektroofen auftreiben müssen. Ich sagte, das wird teuer, und drehte an den rostigen Hebeln, worauf nichts geschah, und ich nervös schnupperte, ob auch kein Gas austrat.
    Der Bruder malte mehrere Quadratmeter große Leinwände voller winziger Dächer, ganze Bezirke, die ganze Stadt aus der Vogelperspektive. Er zeigte mir das Münster und den Fluss, die Universität, die Stelle, wo wir jetzt waren, ich hätte die Stadt nicht erkannt, Städte sind für mich verwechselbar und austauschbar, aber der Bruder meines lustigen Freundes nahm es sehr genau. Jedes Haus, jede Kirche, jede Straßenkreuzung lag an der richtigen Stelle, millimetergenau ausgemessen. Ich fragte nicht, weshalb er dies tat.
    Wir könnten auf den Friedhof gehen, sagte der Bruder meines lustigen Freundes. Obwohl er viel zu oft auf dem Friedhof gewesen sei, und es würde auch nichts helfen.
    Ich war auch auf dem Friedhof gewesen, einmal, doch ich hatte das Grab nicht mehr gefunden. Ich ging zum Friedhof, mit dem Hund, es war erst siebzehn Uhr und wurde schon dunkel, der Himmel violettgrau. Der Friedhof war riesig, und der Tag der Beerdigung war ein heller Frühlingstag gewesen, so hell, dass das Licht die Augen blendete. Im Friedhofsteil E, wo das Grab sein sollte, gab es keine neuen Gräber, 1921–1982, 1895–1985, 1933–1989, Ruhe in Frieden, der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Dann fand ich den Hund nicht mehr, der zwischen verwitterten Grabsteinen und immergrünen Thujahecken verschwunden war. Ich lief die Gräberreihen ab, leise rufend, Hunde sind auf dem Friedhofsgelände verboten oder an der Leine zu führen. Als ich den Hund endlich fand, knurrte er mich an. Er hatte etwas ausgegraben, ich zerrte ihn auf den Gehweg und öffnete den blockierten Kiefer. Zwischen den Zähnen fand ich Fetzen Aluminiumfolie mit etwas eklig Halbverfaultem darin. Ich nahm den Hund an die Leine und verließ schnell den Friedhof.
    Am helllichten Tag der Beerdigung, alle waren gekommen, rannte ich nicht weg. Wir standen am offenen Grab, die Familie näher, die Freunde und Bekannten etwas abseits, allein oder in Gruppen. In der grellen Sonne wirkten wir müde und etwas schäbig, die schwarzen Kleider, die dunklen Ringe unter den Augen. Nachdem der Sarg in der Erde verschwunden war, hob die Mutter zu einem hohen Singsang an, zu einem geschluchzten Klagelied aus dem Namen meines lustigen Freundes, und die anderen Frauen weinten mit, und wir lauschten still dem Echo von der Friedhofsmauer. Wir hatten keine Klagemauer, kein Lied.
    Beim folgenden Essen kramte man Erinnerungen hervor, die rührendsten, die traurigsten, die lustigsten, die vielsagendsten Erinnerungen; eine Erinnerung jagte die nächste, und jeder war ihm plötzlich nah und näher, meinem lustigen Freund. Ich war schweigsam. Im gemeinsamen Erinnern versagte meine Erinnerung, die Geschichten, die erzählt wurden, waren nicht die
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