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Fremde

Fremde

Titel: Fremde
Autoren: Gardner R. Dozois
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    Josef Farber traf Liraun Je Genawen zum ersten Mal während der Zeremonie des Alàntene, dem Fest der Wintersonnenwende, dem Öffnen-der-Tore-von-Dûn, das man jedes Jahr in der alten Stadt Aei am Nordstrand von Shasine auf der Welt Lisle feierte. »Lisle« war natürlich der terranische Name, so gewählt nach Senator Lisle Harris, dem ersten Menschen, der den Planeten besucht hatte. Der Name hatte sich unter der kleinen terranischen Emigrantenkolonie von Aei allgemein durchgesetzt, weil es der menschlichen Zunge schwerfiel, das einheimische Weinunnach, »Fruchtbare Heimstatt«, auszusprechen.
    Farber hielt sich noch keine Woche auf Weinunnach – oder »Lisle« – auf und hatte nur bei wenigen Gelegenheiten die Enklave verlassen. Die Enklave, das war das exklusive terranische Stadtviertel oder Getto, je nachdem, wie man es betrachten wollte. An diesem Abend jedenfalls hatten Langeweile und Frustration sich zusammengetan, um Farber schließlich hinauszutreiben. Er hatte sich einer Gruppe Emigranten angeschlossen, die hinunterging, sich den Alàntene anzusehen, teils weil Brody ihm versicherte, daß »die Cian immer eine gute Show abziehen«, teils weil er fürchtete, sich ohne Führer hoffnungslos zu verlaufen. Als er dann jedoch durch die breiten, gekachelten Straßen der Neustadt von Aei spazierte, fühlte er sich melancholisch und schlechtgelaunt trotz des begeisterten, überlauten Geschnatters der anderen Terraner – oder vielleicht gerade deshalb – und begann sich schon zu wünschen, er wäre in der Enklave zurückgeblieben.
    Es war eine feuchte, kühle Nacht, in der man jeden Augenblick erwartete, daß es anfing zu regnen. Graue Nebel wanden sich vom Fluß herauf durch die hoch ummauerten Straßen wie träge Schlangen oder trieben in wogenden, schimmernden Vorhängen über die weiten, mit Porzellan ausgelegten Plätze. In der feuchten Luft hing der Geruch von Gewürzen, Samen, Räucherwerk und Moschus. Scharf, sauer, süß, schwer und tranig – die Gerüche schwammen in der nassen Nacht wie Öl auf Wasser, die meisten undefinierbar, alle bedrückend. Hin und wieder kam Wind auf, schob wie eine unsichtbare Hand die Nebelschwaden und die Wolkenschleier zur Seite und enthüllte die Millionen eisigen Sterne von Aeis Nachthimmel, dichtgedrängt schimmernd auf samtenem Schwarz. Von den Monden war noch keiner aufgegangen, und das Sternbild des Wintermannes hob gerade sein eisiges, von Sternennebeln umwalltes Haupt über den nahen nördlichen Horizont. Dort im Norden erhob sich die Altstadt auf ihren dreihundert Fuß hohen, senkrecht abfallenden Obsidianklippen, warf ihre Silhouette gegen den Glanz der Brust des Wintermannes, dessen Haupt furchtbar über ihre höchsten Türme ragte. Ihre Lichter leuchteten silbern, gelblich und in einem tiefen, geheimnisvollen Orange, ein kaltes Leuchten von kalten Mauern hoch in den Lüften. Farber schien es, als beobachtete die alte Stadt ihn; nicht unbedingt mit Mißfallen oder auch nur mit Interesse, ein einfaches Beobachten, ein unergründliches Starren, als ginge es darum, ihm wieder die Tatsache bewußtzumachen, daß dies nicht die Erde war.
    Die Neustadt gab sich freundlicher mit ihren runden Porzellanhäusern, ihren Kacheln und Mosaiken, ihren glänzenden Mauern aus Ton und Steingut. Ihre Lichter waren von weichen Pastelltönen geprägt und ergaben ein diffuses Blinken in den träge wallenden Nebeln. Und doch war auch dort das Ambiente beunruhigend und fremd. Seit einer Stunde liefen sie jetzt durch die Neustadt – eine kleine Gruppe von Menschen, nervös um Heiterkeit bemüht, zu laut für die fremdartige Stille. Die Stunde kam ihnen inzwischen wie ein Jahr vor, und sie hatten niemanden gesehen, keine Eingeborenen, kein einziges lebendiges Wesen. Farber begann sich schon zu fragen, ob die Straßen immer so leer waren, nur von Echos in der Stille belebt, und wenn dem so wäre, wie jemand es dort als Fremder aushalten könne, doch dann entdeckten sie vor sich eine Gruppe von Cian, die in die gleiche Richtung ging. Und gleichzeitig vernahmen sie zum ersten Mal das schwache, ferne Murmeln des Alàntene. Sie hatten die östlichen Ausläufer der Neustadt erreicht, und die Straßen fielen nun steil ab zum Aome-Fluß. Die Eingeborenen vor ihnen verlangsamten ihre Schritte. Sie hatten Anschluß an eine andere Gruppe Cian gefunden, und vor dieser Gruppe ging eine andere, und davor noch eine und so fort, und Farber sah, warum die Neustadt völlig verlassen war. Die
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