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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
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entstellt, wenn jemand da hängt, wie schlafend, oder mit weit aufgerissenen Augen, erst dann zerbricht man sich den Kopf und sucht nach den fehlenden Teilen des nicht zusammenpassenden Puzzles.
    Den Haken auf dem halben Stockwerk im Treppenhaus, an welchem er das Seil befestigt hatte, weshalb überhaupt dieser Haken?, den Haken also haben sie nachher entfernt, als gäbe es so keine Erinnerungen oder Nachahmer, sondern nur noch ein Loch und leicht abbröckelnder Verputz an der Decke. Es müsste einen Gott geben, einen guten. Ehrliche Menschen hängen sich auf. Sagte Brecht. Oder vielleicht sagte dies auch nur mein versoffener Nachbar.
    Wir gingen mit dem Hund spazieren, mein lustiger Freund und ich, manchmal gingen wir auch auf eine Party oder zu einer Demo, aber meist gingen wir mit dem Hund spazieren. Ich bin ein fröhlicher Mensch, sagte er, ich bin dein lustiger Freund, wenn du mich einmal vergessen hast oder nicht mehr kennst, weil du andere Freunde hast, all diese ernsten, tiefsinnigen Freunde, mit ihren Büchern und ihren Brillen und den dunklen Ringen unter den Augen, dann kannst du zurückdenken, du wirst lachen und sagen, damals, ja damals hatte ich diesen lustigen Freund. Dann sagte er: Lass uns nach Istanbul gehen, du wirst Fotomodell, und wir werden reich; du würdest bestimmt ein berühmtes Fotomodell werden, so groß wie du bist und so weiß. Ich lachte und sagte, dass ich kein Fotomodell werden wolle, auch nicht in Istanbul. Einmal sagte er, er würde seinen Vater, wenn er ihm begegnen würde, ermorden.
    Ich stieg wieder ins Auto, und wir saßen da, mit geschlossenen Türen, reichten uns stumm die Weinflasche, durch die Windschutzscheibe sah man die rot blinkenden Lichter des Turms auf dem dunkelbewaldeten Hügel, darunter die Stadt. Wie Autokino in einer amerikanischen Vorstadt, ein schlechter Film auf Großleinwand, einzelne Autos davor, darin küssende Halbwüchsige, die Popcorntüte in der einen, die andere Hand im Unergründlichen.
    Er war der Jüngste, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, er war immer mein kleiner Bruder gewesen. Unter allen Brüdern dieser eine, wollte ich sagen, aber das war eine andere Geschichte. Als er in dieses Land kam, war er noch sehr jung, sagte der Bruder, und in der Türkei – ich wartete, doch er sprach nicht weiter. Dass wir darüber gesprochen hatten, sagte ich nicht. Was bedeutet es schon, dass wir darüber sprachen. Man spricht über so vieles und denkt doch nie, dass einer es tun würde.
    Ich sprach auch nicht über das Telefongespräch am vierzehnten April um drei Uhr sechsundfünfzig. Man denkt immer, man könne das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, und plötzlich kriegt das Nichtige immense Wichtigkeit. Ich war krank und nicht zu Hause, sondern lag fiebrig im Bett des Menschen, bei dem ich kaum geblieben wäre, wäre ich damals nicht sehr krank geworden. Mein Handy klingelte, ich nahm ab, im Halbschlaf noch, er fragte irgendwas, ob ich mit zu einer Party käme oder in das besetzte Haus, ich sagte: Nein, ich bin krank. Ich sagte noch etwas und er sagte noch etwas, und nachdem ich aufgehängt hatte, dachte ich, ich hätte etwas Wichtiges vergessen. Ich wollte ihn noch fragen, ob er mit dem Hund gehen könne, morgen früh, weil ich nicht wusste, wann ich wieder aufstehen würde, er solle doch bitte den Hund nicht vergessen. So dachte ich das Gespräch weiter, wie man es eben tut, bei nicht zu Ende gebrachten Gesprächen, und später ist man sich nicht mehr sicher, was man tatsächlich gesagt hatte und was man nur weiterdachte, für sich allein.
    Als er mich küssen wollte, der Bruder meines lustigen Freundes, sagte ich, dass ich nach Hause wolle. Das Gesicht meines lustigen Freundes, das das Gesicht des Bruders war, war nah an meinem, sein Atem, der Weingeruch. Ich will nach Hause, sagte ich. Zu schnell fuhren wir die steile, gewundene Straße zurück in die Stadt. Er streifte ein stehendes Auto, der Seitenspiegel brach ab. Es ist egal, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, überhaupt alles. Wir fuhren über die Eisenbahnbrücke, unter uns die sich verzweigenden Gleise wie Spuren in die Ferne.
    Angekommen, öffnete ich hastig die Tür und setzte mich an den Tisch in der dunklen Küche. Es gibt eine Stille innen, die mit keinem Frequenzzähler messbar ist. Lange saß ich da und dachte an nichts. Dann ging ich schlafen.

Nach Italien
    Bei der Beerdigung von Tante Esther traf ich den Onkel Georg wieder. Dass ich zuvor aufgehört hatte, Onkel
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