Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer
Autoren: Stefanie Sourlier
Vom Netzwerk:
farbigen Turnschuhen mit den Klettverschlüssen. Aber Onkel Georg konnte ja gar nicht wissen, wann ich komme, wenn er überhaupt daran glaubte, dass ich kommen würde. An der Endstation stand also kein Onkel Georg, selbst das dürre Bäumchen stand nicht mehr da, von ihm war nur ein knallig rosa bemalter Stumpf geblieben, dessen Anstrich Fahrradfahrer und andere unaufmerksame Menschen warnen sollte. Komisch, dachte ich, dass der Stumpf nicht längst ausgehoben und die Erdfläche um ihn herum nicht wieder asphaltiert wurde, und ich dachte: Komisch ist, dass ich mir über solche Dinge überhaupt Gedanken mache.
    Durch den Nieselregen lief ich zum dreiundzwanzig Stockwerke hohen Wohnblock, in dem Onkel Georg wohnte, seit ich denken kann. Um das dunkelgraue Hochhausungetüm, das früher einsam in den Himmel ragte, waren nun rosa und gelbe, halb so hohe Klötze gebaut worden. Aber im Innern des Hauses war noch alles wie früher; sogar die Mitteilungen des Hauswarts, mit einer gleichförmigen, tintenblauen Schulschrift dicht beschriebene, vergilbte Blätter, und die Aufkleber der Zeugen Jehovas und des Schützenvereins hingen noch an der Glastüre. Im Fahrstuhl roch es nach Wachs und nassen Kleidern. Ruckartig setzte die Kabine zu ihrer Höhenfahrt an. Mein Bruder und ich verbrachten früher ganze Tage in diesem Fahrstuhl. Wir fuhren ganz hinauf und in den Keller, wo wir nur kurz und mit geschlossener Lifttür anhielten, da uns dieser Keller nie ganz geheuer war. Wir drückten mehrere Knöpfe gleichzeitig, um zu testen, ob der Drang zur Tiefe oder zur Höhe stärker war. Wir jagten einander; mein Bruder fuhr im Lift, und ich lief die Treppe hinauf und hinunter, und anhand der roten Lichter musste ich erraten, wo er sich gerade befand, dieses für mich sehr ermüdende Spiel spielten wir nie mit umgekehrten Rollen, das heißt, ich war immer diejenige, die rennen musste. Im Geiste schossen wir in der Liftkapsel über die dreiundzwanzigste Etage hinaus ins Leere, und wir drückten den Alarmknopf, worauf nichts geschah. In dem Hochhaus gab es kein dreizehntes Stockwerk. Aus abergläubischen Gründen war es weggelassen worden. Um dieses fehlende Stockwerk rankten sich unsere kühnsten und unheimlichsten Vorstellungen eines sich zwischen der zwölften und vierzehnten Etage befindenden Zwischenraums, den der Lift zwar nicht bediente, von dessen dunkler, zwischen den Böden liegender Existenz wir jedoch überzeugt waren. Da die Fahrt von der zwölften zur vierzehnten Etage nur Sekunden dauerte, musste dieses dreizehnte Stockwerk viel niedriger und wahrscheinlich von kleiner gewachsenen Menschenwesen bewohnt sein. Nur einmal kamen unnötigerweise Feuerwehrleute, um uns zu evakuieren, und nur ein einziges Mal blieb der Fahrstuhl tatsächlich stehen, und wir wurden für mehrere Stunden nicht herausgeholt, obwohl wir den Alarmknopf mehrmals und immer wieder gedrückt hatten und uns in Überlebensstrategien, wie Witze erzählen oder bis hundert Millionen zählen, und nur halb so viel Luft einatmen, übten. Mein Bruder rechnete nämlich aus, dass der Sauerstoff nur für zweieinhalb Stunden eingesperrtes Leben reichen würde. Nach zwei Stunden, als wir längst keine Witze mehr wussten und bei Elftausendzweihundertneunundzwanzig angelangt waren, kam ein Fahrstuhlmechaniker und holte uns raus.
    Onkel Georg öffnete mir die Tür, an der ein eingetrockneter Adventskranz hing. Onkel Georg streckte mir seine lange, etwas zittrige Hand entgegen, wir hatten uns auch früher nie umarmt. Grüß dich, sagte er.
    Onkel Georgs Wohnzimmer war gleichzeitig Schlafzimmer; ein großer Holztisch mit gekachelter Oberfläche stand am Fenster, an der gegenüberliegenden Wand ein Sofa, mit einer gehäkelten Tagesdecke bedeckt, das man zu einem Bett ausziehen konnte, der Rest des Raums wurde ausgefüllt von einer sogenannten Wohnwand aus mit braunem Holzmaserimitat beklebtem Sperrholz. Diese bot Platz für einen alten Fernseher, Holzelefanten und Nippes, aber auch für ein großes Fernrohr, ein altes Telefongerät und unzählige Bücher, vor allem Bildbände, die man früher mit den auf Lebensmittelverpackungen befindlichen Silva-Punkten kaufen konnte und deren Bilder von Schneeleoparden, Urvölkern in Afrika und Himalayaexpeditionen von Onkel Georg säuberlich auf die dafür vorgesehenen Seiten eingeklebt worden waren. Die Buchtitel kannte ich auswendig: Die Eroberung der Meere , Wunder der Erde , Band drei: Das Weltall , Das Automobil von seinen Ursprüngen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher