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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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Manche lehnen sich gefährlich weit über die Brüstung, damit sie mit den Frauen, die direkt unter ihnen wohnen, reden können, die sich wiederum verrenken, um die Frauen oben sehen zu können. Sie sprechen auch mit den Frauen schräg gegenüber und lugen in die Fenster der Nachbarn, um den Alten, die wahrscheinlich auf harten Betten lagern und unbedingt wissen wollen, was passiert ist, die Neuigkeit zu überbringen. Und bald hat sich verbreitet, dass der flotte junge Arzt tot im Sessel aufgefunden wurde, die Walkman kopfhörer noch im Ohr, aus denen leise Musik drang.
    Wer im Erdgeschoss von Block A wohnt, geht, weil die Mauer ihm die Sicht versperrt, zu den Nachbarn in die oberen Stockwerke. Vermutlich suchen sie nicht einmal nach einem Vorwand, sondern klingeln einfach und gehen schnurstracks und düsteren Blicks auf die Balkone.
    Jetzt spricht sich herum, dass der Arzt, dessen Alter bisher keiner kannte, zweiundvierzig Jahre alt war. Dass es sich um eine gerade Zahl handelt, passt irgendwie zu einem so exzellenten Menschen. Als seine Frau das Haus am späten Vormittag verließ, um auf den Markt zu gehen, war ihm noch nichts anzumerken. Er wirkte kerngesund. Als sie dann eine Stunde später wiederkam und an der Haustür klingelte, machte ihr keiner auf. Durch ein Fenster spähte sie in die Wohnung und sah, dass er mit offenen Augen in seinem Sessel saß und sich nicht rührte. Sie warf eine Aubergine nach ihm, die ihn zwar traf, ihm jedoch keine Reaktion entlockte. Sie rannte zu den Nachbarn, um Hilfe zu holen, und schon bald standen mehrere Männer vor ihrer Wohnung und brachen die Tür auf.
    Immer verläuft es auf diese Weise. Ab und zu hört man solche Geschichten, und sie sind alle gleich: Die Frau klingelt, und keiner macht auf. Die Nachbarn brechen die Wohnungstür auf, und finden den Leichnam des Mannes in einer Position, die eigentlich den Lebenden vorbehalten ist. Er war gerade bei irgendeiner Alltagsverrichtung. Jedes Kind kennt diese Geschichten und fürchtet nichts mehr, als eines Tages aus der Schule nach Hause zu kommen und Unmengen von Schlappen vor der Wohnungstür liegen zu sehen.
    Plötzlich verstummen alle, so, als passiere gleich etwas Wichtiges. Die Frauen warten, aber nichts passiert. Das Murmeln fängt wieder an, und es spricht sich herum, dass jemand das einzige Kind des Arztes, ein vierzehnjähriges Mädchen, aus der Schule holt. Erst wird man ihr nicht sagen, dass ihr Vater gestorben ist, sondern sie unter einem Vorwand aus dem Klassenzimmer holen, damit sie nicht auf der Straße in Ohnmacht fällt oder laut zu jammern anfängt. Bald wird sie in das schmale Gässchen einbiegen, das zu ihrem Haus führt, sie wird dort entlanggehen und nicht ahnen, dass ihr Leben sich verändert hat. Sie wird sich wundern, warum all die Leute auf den Balkonen stehen und sie anstarren. Sie muss gleich hier sein, in ihrer himmelblauen Schürze. Dann wird sich allen das seltene Schauspiel von einem Mädchen bieten, das gerade erfährt, dass ihr Vater tot ist.
    Die Frauen aus den anderen drei Wohnblocks in der Balaji Lane treffen nach und nach ein und gesellen sich zu den Hausfrauen, die bereits in Scharen auf den Balkonen der oberen Stockwerke stehen. Auch Stühle müssen aufgestellt worden sein, denn manche Frau sieht jetzt nur noch halb so groß aus. Eine von ihnen reicht einer anderen Frau auf dem Nachbarbalkon betrübt Karotten. Das Geschnatter wird lauter, und die Luft schwirrt von dem wenigen, was die Frauen über Herzinfarkte wissen. Wahrscheinlich gibt es noch kein Tamilwort dafür, dennsie benutzen den englischen Ausdruck «Heart Attack». Die Wortgewandteren nennen es «Cardiac Arrest» – Herzstillstand. In dem schwirrenden Haufen steht Mariamma allein. Niemand redet mit ihr.
    Sie fragt sich, warum jemand bei dieser unmöglichen Hitze auf den Gemüsemarkt geht, warum sollte eine Frau um die Mittagszeit auf den Markt gehen? Aufmerksam betrachtet sie den Portikus des Hauses des toten Arztes. Dort steht keine Einkaufstasche mit Gemüse. Eine Frau kommt vom Markt zurück und klingelt an der Haustür. Ihr Mann macht nicht auf. Sie späht durch ein Fenster und sieht ihn regungslos im Sessel sitzen, mit aufgerissenen Augen. Was würde sie da tun? Sie würde die Einkaufstasche fallen lassen. Falls ihr Portemonnaie darin ist, würde sie es vielleicht herausnehmen. Das mag noch angehen. Aber die Tasche würde sie dort stehen lassen. Und um Hilfe schreien. Doch keiner hat eine Frau schreien gehört. Zu
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