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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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Schelten leiser, bis sie nur noch flüstert und der Wand am Ende abfällig zunickt. Danach entspannen sich ihre Muskeln, und ihr Verhalten ist ihr sogar ein klein wenig peinlich. Sie leckt sich über die Lippen und spitzt die Ohren.
    Das Murmeln erinnert sie an Unni. In Wahrheit erinnert sie alles an Unni, und nur den jeweiligen Zusammenhang erfindet sie sich immer dazu. Doch das Murmeln ist eine qualvolle Erinnerung, die sie nicht loslässt, weil der schlimmste Tag ihres Lebens damit begann: mit Männergeflüster, von dem sie erst dachte, es habe nichts mit ihr zu tun. An jenem Samstag nach der Gebetsversammlung hatte sie auf dem Heimweg einen gestohlenen Zweig Bougainvilleen in der Hand. Als sie die Balaji Lane entlanglief, standen die Leute an den Fenstern und auf den Balkonen und sahen sie an, was sie seltsam fand, weil sie schon lange nicht mehr beachtet wurde. Dann bemerkte sie die Menschenmenge, die vor dem Eingangstor von Wohnblock A standund sie direkt anblickte. Alle wurden ganz still, und sie spürte ihre Beine nicht mehr. Eine Frau nahm sie an der Hand und sagte, sie müssten zum Ajanta Hospital gehen.
    Was machte sie in dem Augenblick, als Unnis Kopf auf dem Boden aufschlug? Darüber denkt sie oft nach. Sie hofft, dass es nicht gerade der Augenblick war, als sie ein Lachen zu unterdrücken versuchte, weil die Gebetsgruppe den Himmel laut anrief, oder als sie an eine der Damen herantrat und um ein Darlehen bat, oder als sie beschämt zu lächeln versuchte, als die Dame höflich ablehnte. Weil sie nicht besonders stolz auf das ist, was sie in der Gebetsgruppe tut, hofft sie, dass es nicht ausgerechnet passierte, als sie bei der Versammlung war. Sie spioniert nämlich für den Gemeindepfarrer, sie ist die Schnüfflerin, die ihm alles über seine katholischen Schafe zuträgt, die scharenweise zu den evangelikalen Pfingstlern abwandern. Dieser Beschäftigung widmet sich Mariamma in ihrer freien Zeit, und zwar, weil der Pfarrer ihr das Schulgeld erlässt und der Herz-Jesu-Familienladen Anweisung hat, ihr auf alles Kredit zu geben, solange sie ihre Schulden alle zwei Monate begleicht.
    Sie hofft, dass sie etwas Würdiges tat, als der letzte Atemzug aus den Lungen ihres Sohnes entwich; hoffentlich war sie wie jede gute Mutter gerade auf dem Heimweg und überlegte, was sie für zwei Jungen kochen sollte, die einen Riesenappetit hatten.
    Als Unni klein war, wollte er unbedingt heiraten. Er war damals erst fünf und gewillt, zu warten, bis er das heiratsfähige Alter erreicht hatte, jedoch keinen Tag länger. Es war ihm so dringend damit, dass sie seinen Wunsch für ihre Zwecke benutzte: «Unni, wenn du jetzt nicht deine Zähne putzt, verheirate ich dich nicht», woraufhin er sofort ins Bad flitzte. Wie wurde dieser Junge so groß und stark?
    Er sprach viel über den Tod, aber nicht auf finstere Weise, wie jetzt alle behaupten. Eines Tages stand er in der Küchentür, wieimmer, wenn er im Haus war, mit nacktem Oberkörper. Sein fester, athletischer Brustkorb war rot gesprenkelt, weil er die Moskitos anzog. Er erzählte seiner Mutter, dass ihm ein komischer Gedanke gekommen sei. Dabei fuhr er mit beiden Daumen über ihre Stirn, eine Angewohnheit, die er sich als Siebenjähriger zugelegt hatte, weil er dachte, die Falten auf ihrer Stirn seien Sorgen, die er durch Glattstreichen zum Verschwinden bringen konnte. «Jeder will glücklich sein, stimmts?», sagte er. «Jeder will unbedingt glücklich sein. Aber führ dir mal vor Augen, wie vieles richtig laufen muss, damit man glücklich sein kann. Deinem Mann muss es gut gehen. Deine Kinder dürfen nicht vor dir sterben. Und deine Enkel dürfen keine Kinderlähmung oder so was bekommen. Auch sie dürfen natürlich nicht früh sterben. Und auch deinen Urenkeln und Ururenkeln muss es gut gehen, selbst wenn du dann schon lang nicht mehr da bist. Allen muss es gut gehen. So viele Leben müssen gelingen. Was hast du bloß begonnen, Mariamma Chacko, weißt du eigentlich, was du begonnen hast, als du Kinder in die Welt gesetzt hast? Ein ganzes Geschlecht, das ohne dich nicht existieren würde. Irgendwo muss da ja etwas schiefgehen.»
    Und dann sagte er etwas Seltsames. «Aber wenn ich sterben würde, wärst du traurig, das weiß ich. Stell dir einfach vor, ich würde sterben», sagte er. «Natürlich wärst du dann traurig. Aber nicht so tieftraurig, wie alle meinen. Dem Glück zu entrinnen, ist sehr schwer. So ist unsere Welt nun mal.»
    Der Junge dachte zu viel nach, er war
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