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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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voller Ideen. Und er erzählte ihr alles. Anders als andere Jungen behandelte er seine Mutter nicht wie eine Idiotin, die das Essen kochte. Er unterhielt sich gern mit ihr.
    Manchmal sagte er: «Komm, wir suchen jetzt den Sinn des Lebens.» Dann stützte er das Kinn in die Hand, blickte zu Boden und tat, als sei er tief in Gedanken. Nach ein paar Augenblickenschüttelte er den Kopf und sagte: «Hab ihn nicht gefunden.» Und dann lachten sie jedes Mal.
    An anderen Tagen war es ihm ernster damit. Er erzählte ihr, sie seien von Leuten umgeben, die etwas wussten, etwas sehr Wichtiges, das sie jedoch nicht erklären konnten. Das wollte er wirklich glauben. Wenn er hörte, dass sich jemand ungewöhnlich benahm, wurde er sehr neugierig, versuchte, mehr über die Person herauszufinden, und trieb sich sogar in ihrer Nähe herum. Deshalb dachten viele, Unni sei selbst ein bisschen seltsam.
    Er erzählte ihr von einem Mann, der ganz in der Nähe wohnte. Er war ein guter Mann und völlig normal. Ein guter Vater und Ehemann, alles Bezeichnungen, die bei ihr zu Hause oft verwendet wurden und je nach Sprecher tadelnd, sehnsüchtig oder satirisch gemeint waren. Der Mann kam eines Tages von der Arbeit nach Hause, aß wie immer zu Abend, spielte mit seinen Kindern und ging dann zu Bett. Er hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, was zeigte, dass er ganz normal war. Am nächsten Morgen sagte er zu seiner Frau und seinen Kindern, er gehe für immer weg, könne ihnen aber nicht erklären, warum. Er verließ das Haus im Schlafanzug und nahm nichts mit, nicht einmal seine Zahnbürste. Der Mann kam nie zurück.
    Unni erzählte diese Geschichten, als ahnte er, wo solche Männer hingingen und was sie sich für ihr restliches Leben erhofften. An manchen Tagen sah sie, wie Unni auf dem Balkon stand und alles um sich herum ganz genau betrachtete. Er sagte zu ihr, unter den Vögeln gebe es ebenfalls exzentrische Einzelgänger, die sich gegen den natürlichen Lauf des Lebens stemmten und etwas Unerwartetes taten. «Das ist ein Hinweis», sagte er scheu lächelnd. «Da braut sich was zusammen, Mutter.» Vielleicht war er nur jemand, der sich das Leben ringsum gern ansah und dann Geheimnisse erfand, um seinem Müßiggang mehr Bedeutung zu verleihen. In der neuen, nervösen Stadt, in der jederJunge so viel Mathe lernen musste, wurde Untätigkeit nämlich nicht mehr toleriert. Sie sagte zu ihm: «Du musst alles betrachten, Unni, einfach dastehen und dir das Leben stundenlang ansehen. Wenn du wie ich in einem Dorf geboren wärst, bräuchtest du dafür keine Rechtfertigung, keinen von diesen hochfliegenden, gottlosen Gedanken, die der Papst nie sanktionieren würde.»
    Ihr Junge war so überaus friedlich. Daher tranken die Moskitos sein Blut. Er schlief, ohne sich je zu bewegen, wie ein Toter.
    Das Murmeln der Männer schwillt an. Mariamma klopft ihren Sari zurecht und geht auf den Küchenbalkon, weil sie wissen will, was passiert ist. Der Tumult hat natürlich alle Frauen aus Wohnblock A magisch auf ihre winzigen Balkone gelockt, auf denen es um diese Tageszeit kochend heiß ist. Normalerweise kommen sie zur Mittagszeit nur dorthin, um ihre Geheimnisse zum Trocknen aufzuhängen. Die Küchenbalkone gehen nach hinten hinaus, und allem, was dort geschieht, dichtet man Diskretion an, im Gegensatz zu den Balkonen auf der Vorderseite, die augenscheinlich aller Welt zugewandt sind.
    Da Mariamma im dritten Stock wohnt, hat sie eine gute Sicht auf das Nachbargrundstück mit dem Haus des Arztes, das an Wohnblock A anschließt. Es ist ein kleines Einfamilienhaus mit Rosengarten, dem Stolz seiner Frau. Die Tür steht offen, und rings um die Fußmatte mit der Aufschrift «Willkommen» liegen jede Menge Schlappen, vor allem Männerschlappen. Im Garten stehen ein paar Männer und unterhalten sich mit verschränkten Armen. Die Zeichen sind unmissverständlich, doch die Frauen aus Wohnblock A fragen trotzdem, was denn passiert sei. Sie beugen sich über die Balkonbrüstungen, halten ihre Saris über der Brust fest und stellen ihre Fragen im Flüsterton. Die Männer gehen durch den Garten zur Mauer, die das Haus mit Block A verbindet, so, als wollten sie dort urinieren, was ihnen zuzutrauenwäre. Sie blicken nach oben und flüstern den Frauen zu, was passiert ist, woraufhin die Frauen sofort zu schnattern anfangen, sodass die Spatzen die Flucht ergreifen.
    Die Frauen stehen auf ihren Balkonen und diskutieren die Sache mit den Frauen auf den anderen Balkonen.
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