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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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ihren Schulranzen trägt. Sie lächelt einer Bekannten zu, wirkt aber sichtlich konfus. Sie blickt die schweigenden Menschen an, die auf der Straße stehen und ihrem Blick ausweichen. Sie sieht zu den Balkonen auf der Rückseite vonBlock A hinauf, zu den Scharen regloser Frauen, die sie ebenfalls anstarren. Die Miene des Mädchens wird ernst. Sie öffnet das niedrige Tor und sieht die Fremden im Garten stehen und flüstern. Ihre Schritte werden jetzt schneller. Als sie die vielen Schlappen vor der Haustür sieht, hält sie kurz inne und rennt dann weinend ins Haus.
    ~
    So stehen die Dinge, als Thoma, Chacko den Schlägen im Nachbarklassenzimmer lauscht und flüssige Schwermut in der Leistengegend spürt. Er führt sich vor Augen, wie schwer es ist, dauernd klug zu sein. Er denkt daran, wie lang das Leben doch ist, an die vielen Jahre, die ihm noch bevorstehen. Er ist erst zwölf und hat noch einen weiten Weg vor sich. Ob Thoma es schafft? Unni versuchte immer, ihm Mut zu machen, er sagte sogar, Mathe würde bald viel leichter: Der Innenminister, der die Verantwortung für ein glückliches Inneres hat, würde bald ein Gesetz verabschieden, das die Zahl Pi von 3,14.159 auf eine simple 3 abrundet, damit alle indischen Kinder die Kreisfläche leichter berechnen können. Das hatte Unni gesagt, aber wahrscheinlich hatte er wieder einmal gelogen.
    Jeden Tag versucht Thoma, klüger zu werden, aber es fehlt ihm an Konzentration – er ist ein Träumer. Stundenlang starrt er in die Schulbücher und lässt sich vom Leid des Parallelogramms ablenken, das für immer schräg steht. Indem er das Papier mit den Nägeln einritzt, versucht er, die müden Parallelogrammglieder zu begradigen. Die aufreizende Arroganz des gleichseitigen Dreiecks macht ihm ebenso zu schaffen wie die im Sande verlaufenden Ambitionen des Achtecks, ein Kreis zu werden, oder das Schicksal des Nenners, der auf ewig vom Gewicht des ungerechtenZählers erstickt wird, oder die Einsamkeit des Planeten Pluto. Ganz zu Schweigen von Merkur, der so klein ist, dass er neben der gelben Sonne nicht viel mehr als ein Punkt ist. Niemand auf dieser Welt hat Respekt vor Merkur.
    Jeden Tag versucht Thoma, sich interessante Fakten einzuprägen, aber sein Kopf ist wie ein Sieb. Er kann sich nur an zwei Dinge erinnern, die ihn beeindruckt und ihm aus unerfindlichen Gründen im Gedächtnis geblieben sind: wofür KGB steht – nämlich für Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti –, und an Pelés richtigen Namen, der Edson Arantes do Nascimento lautet. Jeden Tag hofft Thoma, dass ein Wunder geschieht und Mythili Balasubramanium ihn fragt: «Thoma, was genau bedeutet KGB? Außerdem will ich wissen, wie Pelé eigentlich richtig heißt.» Doch obwohl Thoma Christ ist, geschehen in seinem Leben keine Wunder.
    Der Gedanke an seine düstere Zukunft lässt eine weibliche Erscheinung vor seinem inneren Auge auftauchen: Sie hat schwarz verfaulte Zähne und ist seine spätere Ehefrau, ein Schicksal, das allen Jungen prophezeit wird, die nicht allzu klug sind. Doch wenn er erwachsen ist, will er eine hübsche Frau mit langen Zöpfen, einem roten Baumwollsari und einer engen blauen Saribluse. Auch ein bisschen Angst vor ihm sollte sie haben. An leidvollen Tagen würde sie ihr nervöses Köpfchen an seine Schulter legen und ganz leise weinen, aber nur kurz. Er würde sie nie schlagen, respektvoll mit ihr reden, sie gut behandeln und nie in sie eindringen.
    Doch würde sie finden, dass Thoma gut aussieht? Sieht er gut aus? So wie Unni? Es wäre ganz wunderbar, wenn es ein Stoffzelt gäbe, das ein Junge maskiert betreten könnte, ohne dass es jemand merkt. Im Inneren säßen die Juroren, Frauen und Männer, und würden ihn bitten, die Maske abzunehmen. Dann würden sie ihn sorgsam inspizieren und schließlich ihr Urteil fällen – gutaussehend oder nicht. Thoma sehnt sich danach, auf immer von seinen Zweifeln befreit zu werden.
    Aus dem Klassenzimmer nebenan dringen ruhig und systematisch die Schläge: erst ein dumpfer Schlag, so, als fiele ein Wörterbuch zu Boden, dann kurze Stille, als warte jemand auf Anerkennung. Dann unverkennbar das Aufklatschen einer Hand auf dem exponierten Hintern eines Jungen, der in Mathe oder Physik oder in beiden Fächern durchgefallen ist. Die Schläge klingen manchmal leise und manchmal laut, es hängt davon ab, wie fleischig der jeweilige Junge ist. Dünne Hintern klingen lauter als dicke, auf denen die Schläge jedoch länger wehtun. Gerade hört man einen
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