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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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lauten Schlag, gefolgt von einem schlimmen Stöhnen, danach herrscht Stille. Thoma ist sich sicher, dass H.M. Dorai jetzt mit der achten Klasse fertig und zur siebten unterwegs ist. Ihr Stündlein hat geschlagen. Thoma starrt das Pult an, er wendet den Blick nicht ab, merkt aber, dass die anderen Jungen regungslos dasitzen. Alle warten.
    Weil Thoma diesen Monat in keiner Prüfung durchgefallen ist, wird er heute höchstwahrscheinlich nicht verprügelt. Irgendwie besteht er die Prüfungen meistens mit knapper Not, doch etwas kann immer schiefgehen. An dem, was er in den Tests schreibt, haben die Lehrer immer etwas auszusetzen – sie finden Fehler, die er nicht ganz versteht. Beispielsweise hatte er auf die Frage «Kannst du die Fläche eines Dreiecks ermitteln, dessen Grundlinie 3,87 cm und dessen Höhe 5,13 cm beträgt?» als Antwort geschrieben: «Ja, das kann ich.» Dafür hatte er eine Ohrfeige bekommen, ohne zu wissen, warum. Dann war da die lächerlich leichte Frage: «Welches lebendige Ding produziert seine eigene Nahrung?»
    Miss Gloria hatte ihm mehrmals auf die Finger gehauen. «Doch nicht Mariamma, du Idiot, doch nicht Mariamma Chacko. Welches lebendige
Ding
, hieß die Frage. Ist deine Mutter ein
Ding

    Die richtige Antwort sei «die Pflanze», sagte sie. Was absurd ist.
    Naturwissenschaften sind schwer, weil man sie nicht vollständig verstehen, sondern ihnen nur wie dem Katechismus Glauben schenken kann. Vielleicht sollte er Schriftsteller werden. Doch Schreiben ist ebenfalls schwer. Als Schriftsteller muss Thoma Dinge schreiben wie: «Er war den Westwinden zugewandt.» Doch woher soll Thoma wissen, ob der Wind aus Westen weht? Dass sogar Schriftsteller nicht ohne Fakten auskamen, dass sie informiert sein mussten, jagte ihm Angst ein. Thoma ist zwar informiert, hat aber immer die falschen Informationen, nicht die, die nützlich sind.
    Auf die Frage «Was ist das geschlechtliche Gegenstück zu ‹Ram›?», hatten alle seine Klassenkameraden erstaunlicherweise korrekt geantwortet, als hätten sie aus derselben Quelle abgeschrieben. «Ewe – Mutterschaf»[ * ], lautete die Antwort. Woher wusste ein Mensch in Madras so etwas? Thoma hatte «Sita» geschrieben und sich dafür ein paar Klapse eingehandelt.
    Die Jungen wundern sich, dass H.M. Dorai noch nicht erschienen ist. Dann hören sie einen dumpfen Schlag im Klassenzimmer nebenan. Er war also noch dort. Sie atmen erleichtert auf, was Miss Gloria zum Lachen bringt, weil er unweigerlich kommen wird, es gibt kein Entrinnen. Sie steht lächelnd und nickend vor der Klasse. Sie steht mit verschränkten Armen da, so dass ihre Brüste aus der Saribluse quellen. Sie tut ihm leid, weil jeder weiß, dass sie Brüste hat. Das muss eine Schande für sie sein. Wie halten Frauen das bloß aus?
    H.M. Dorai stürmt ins Klassenzimmer und sortiert die Atmosphäre irgendwie um. Die Stille und das Schweigen im Klassenzimmerfallen in sich zusammen, und stattdessen bilden sich eine neue Stille und ein neues Schweigen. Er wirkt, als habe er nicht viel Zeit und als wisse er ganz genau, was zu tun ist. Er hat einen irren Blick, sein glänzendes schwarzes Haar strömt ihm in lustigen Wellen vom Haupt. Und er hat keinen Hintern. Er legt seinen dicken Rohrstock und ein paar andere Sachen auf den Tisch und liest acht Namen von einem Zettel ab. Die Jungen stehen auf, gehen zur Tür und stehen mit ernstem Blick da. Er hat nur diejenigen ausgewählt, die sowohl in Mathe als auch in Physik durchgefallen sind. Er sieht die Jungen an und krempelt die Ärmel hoch. «Aufgepasst», sagt er, «die Ehrengäste des Abends sind heute …», und dann ruft er einen Namen auf. Der Junge marschiert im Stechschritt, schwenkt die Arme auf und ab, reißt die Beine steif in die Höhe und skandiert «links, rechts, links». Er weint jetzt, und sein «links, rechts, links» klingt plötzlich wie ein Lied. Vor H. M. Dorai macht er halt und beugt den Oberkörper nach unten. Dorai lässt die Hand über dem Hintern des Jungen kreisen und versetzt ihm einen harten Schlag. Der Junge stampft mit dem Fuß auf, salutiert, schreit «Dankeschön» und geht zurück an seinen Platz.
    Dann ruft H.M. Dorai den nächsten Namen auf. Als er mit allen acht Ehrengästen fertig ist, breitet sich
gespannte Stille
aus. Eigentlich müsste er jetzt gehen, aber Thoma weiß, dass etwas nicht stimmt. Dorais Blick hatte kurz auf ihm geruht und war dann weitergewandert, Thomas Bild im Schlepptau. Das verheißt nichts
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