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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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und sich die Vergangenheit vor Augen führt und Ouseps Eigenarten, dann ist es nur recht und billig, dass die Leute ihn anstarren, doch er hasst es zutiefst. Wenn sie wüssten, dass Ousep Chacko in Wirklichkeit nicht auffallen will und unter fremden Blicken leidet, fänden sie das vermutlich urkomisch. Doch es ist der Schüchternen Los, dass sich alle ihre Befürchtungen für gewöhnlich bewahrheiten.
    So, wie die Dinge stehen, fällt man in dieser geteerten Gasse leicht auf. Den ganzen Tag wartet diese Gasse darauf, sich vom leisesten Hauch von Fremdheit erschrecken zu lassen. Beispielsweise von einer verirrten Arbeiterin in einer subversiven, ärmellosen Saribluse, die hier dasselbe Ansehen genießt wie eine geschiedene Frau. Oder von einem Mann mit Pferdeschwanz odereinem nordindischen Mädchen in Jeans, die so eng sind, dass man das Tageslicht zwischen ihren Beinen sieht. Fast ist es, als seien solche Erscheinungen Anzeichen dafür, dass die Zukunft, die anderswo schon begonnen hat, sich jetzt in dieser Stadt umsieht. Eine Ära kämpft ihr letztes Gefecht, und nur noch dieses eine Mal lässt sich eine Straße in Madras korrekt porträtieren: Die Männer sind Filialleiter, die Mütter Hausfrauen. Alle Büstenhalter sind weiß, und angloindische Mädchen in geblümten Kleidern heißen Maria.
    Jahre später würden die Bewohner der Balaji Lane diese Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis kramen und sich leise lachend an die katholische Familie aus Kerala entsinnen, die Kuckucke unter den Krähen: an den abscheulichen Mann namens Ousep Chacko, an seine hilflose Frau, deren berechtigter Groll sich gegen die nackten Wände richtete, und an ihren Sohn Thoma, der schlecht in Mathe war. Was war aus ihnen geworden? Hatten sie dieses lange Leben rein zeitlich gesehen überdauert, es durchgestanden?
    Und natürlich würden sie sich an Unni erinnern. Unni Chacko würden sie nie vergessen. «Kannst du dich noch an Unni entsinnen?», würden sie sagen. «Hat man je herausgefunden, warum er es getan hat? Warum hat Unni Chacko so was getan?» Niemand erwähnte jemals, was er eigentlich getan hatte. Das Wort ist in allen Sprachen einfach zu fürchterlich.
    So früh am Morgen möchte Ousep noch nicht an seinen Jungen denken – zumindest das erste Interview möchte er hinter sich haben. Wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließe, würde er in die üblichen Fallen treten und sich dieselben entnervenden Fragen stellen, die er sich schon tausend Mal gestellt hatte. Er möchte an etwas anderes denken, an etwas Belangloses. Doch schon baut sich Unni Chackos Bild in Ouseps Kopf auf, Unnis Selbstporträt starrt seinen Vater an: ein Junge mit durchdringendemBlick und schmalen Augen, einer breiten Stirn und dichtem Wuschelhaar. Ein siebzehnjähriger Cartoonkünstler, außergewöhnlich talentiert, aber zu jung, um zu verstehen, dass sich hinter einer subtilen Art nicht immer nur Mittelmaß verbirgt. Wie die meisten Cartoonisten redet der Junge nicht viel, und das wenige, was er sagt, ist nicht besonders witzig. Meistens ist er entsetzlich einsilbig, selbst wenn er mit seiner Mutter spricht, die er aus übertriebenen Gründen liebt – die einzige Art, auf die Söhne ihre Mütter lieben können.
    All dies sieht Ousep, der sonst sehr wenig über seinen Sohn weiß. Das zu akzeptieren, ist keine Schande. Ganz gleich, welchen Illusionen sich Eltern hingeben, ihre Kinder kennen sie eigentlich nicht. Ousep ist einfach ein Vater, der seinen Sohn noch weniger kennt als andere Väter. Aber er hat jeden Zentimeter von Unnis dreiundsechzig Cartoons und Comics studiert, die in der Wohnung herumliegen, die meisten in einer Holztruhe. Wenn man einen unerklärlichen Comic dazuzählt, der zufällig in seine Hände geriet und den er vor Mariamma versteckt hält, dann sind es insgesamt vierundsechzig. Diesen Comic vor ihr zu verbergen, ist nicht ganz einfach. Er hat ihn im Radio versteckt, das er nun jedes Mal aufschrauben muss, wenn er ihn ansehen will.
    Irgendwo in Unnis Cartoons und Comics muss der Schlüssel verborgen liegen, des Rätsels Lösung, glaubt Ousep. Viel mehr an Glauben bleibt ihm nicht.
    Unnis Werk besteht vor allem aus Comics, die ein paar Seiten lang sind, elaborierte Schwarz-Weiß-Skizzen mit einem gelegentlichen Wasserfarbtupfer. Thematisch bilden sie keine Einheit, und düstere Superheldengeschichten, die man vielleicht vermutet hätte, fehlen ganz. Doch aus irgendeinem Grund wird in unverhältnismäßig vielen seiner Comics über die Suche
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