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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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herausgehalten hat, Ousep aber seit einer Weile anstarrt. Als Ousep ihm in die Augen blickt, wendet er den Blick ab. «Wer ist das?», fragt Ousep flüsternd. «Der bärtige Junge in dem T-Shirt mit dem Kuhschädel?»
    «Das ist Beta», erklärt der Vorsitzende. «Das ist sein Pseudonym. Wie er in Wirklichkeit heißt, weiß keiner.»
    «Beta wie Alpha, Beta, Gamma?»
    «Ich glaube schon. Dass er heute hier ist, wundert mich ein bisschen. Er kommt nicht oft zu den Versammlungen. Und, Mr Chacko, falls er etwas über Unni sagt, nehmen Sie es ihm nicht übel. Mit ihm stimmt etwas nicht.»
    Die Comiczeichner haben Ousep nach einer Weile vergessen, was ein gutes Zeichen ist. Sie reden immer noch über Unni, ziehen aber keine Schau mehr ab, sondern unterhalten sich miteinander. Bis auf Beta, der Ousep wie ein Kind anstarrt, blicken sie auch nicht mehr zu ihm herüber. Ousep hört ihnen aufmerksam zu, auch wenn er das meiste schon viele Male gehört hat – Unnis Ansicht, dass es den Unglücklichen nicht so schlecht geht, wie alle Welt glaubt. Dass Straßenkinder, Behinderte, Waisen, Häftlinge weitaus glücklicher sind, als wir glauben. Und dass die Sprache eine Falle ist, dass sie von dunklen evolutionären Mächten geschaffen wurde, um das menschliche Denken einzuschränken. Dass Schriftsteller überschätzte Idioten sind und alle Religionen von Comickünstlern aus alten Zeiten stammen. Und dass es in den Comics letztlich um dasselbe Ziel geht, um das es der Menschheit insgesamt zu tun ist, nämlich, sich von der Sprache zu befreien.
    Plötzlich herrscht Schweigen, so, als hätten alle gleichzeitigaufgehört zu reden. Offenbar hat keiner mehr etwas zu sagen. Doch dann meldet sich ein Stimmchen aus der letzten Reihe: «Er konnte meine Gedanken lesen, das schwör ich.» Der Junge hat eine teure, randlose Brille. Er versucht zu lachen, um zu zeigen, dass er eigentlich nicht an übersinnliche Phänomene glaubt.
    Auch das hat Ousep schon einmal gehört. Unnis Klassenkameraden haben ihm von Unnis Begabung erzählt, über die alle munkelten, doch Ousep ist bisher erst drei Jungen begegnet, die sie direkt erlebt hatten. Der Cartoonist ist nun der vierte. Der Junge erklärt: «Er bat mich, an eine Zahl zu denken, die er dann erraten hat. Einfach so.»
    «Weißt du noch, welche Zahl das war?», fragt Ousep, obwohl er sicher ist, dass es die Zahl Dreiunddreißig war.
    «Gute Frage», antwortet der Junge.
    «Weißt du die Zahl noch?»
    «Die vergess ich nie», sagt der Junge. «Es war Dreiunddreißig.»
    Es wird langsam Abend, und die Schweigepausen werden länger. Die Cartoonisten haben beinah nichts mehr zu sagen. Ousep fragt sie: «Kennt einer von euch Somen Pillai?» Die Comiczeichner schütteln die Köpfe. Keiner kennt Somen Pillai.
    Dann herrscht lang tiefe Stille. Der Verein wirkt jetzt unruhig, die Cartoonkünstler wollen nach Hause. Ein paar Jungen haben ihre Taschen über die Schulter gehängt und sind dabei, aufzustehen. Wie lange kann man schon über einen Siebzehnjährigen reden? Der Vorsitzende nimmt die Gelegenheit wahr, hebt seinen übergroßen schwarzen Stift hoch und sagt: «Unni Chacko.» Auch die Cartoonisten heben ihre Stifte hoch und wiederholen: «Unni Chacko.» Der Vorsitzende kritzelt etwas auf ein Blatt und gibt es Ousep. Es ist eine Karikatur von Unni, die dafür, dass sie in Sekundenschnelle gezeichnet wurde, hervorragend ist. Ein paar Jungen stellen sich bei Ousep an, um ihm ebenfalls ihre soeben angefertigten Unni-Karikaturen zu überreichen. Die meistenzeigen seinen Sohn mit Engelsflügeln und Heiligenschein. Auf einer Zeichnung sitzt er mit gelangweilter Miene in den Wolken, und das bricht Ousep das Herz. Die Vorstellung, sein Sohn könne zu ewiger Langeweile verdammt sein. Ousep wünscht sich, dass es keine Ewigkeit gibt, selbst seinen Feinden wünscht er das.
    Beta gehört nicht zu denen, die Schlange stehen, um ihre Huldigungen zu überreichen. Er steht an einer dicken, alten Säule und sieht zu. Als Ousep alle Karikaturen bekommen hat, geht er mit dem Bündel zu Beta und fragt:
    «Wie heißt du?»
    «Beta.»
    «Und dein richtiger Name?»
    «Was soll an einem Namen richtig sein?»
    «Warum heißt du nicht Alpha?»
    «Weil ich Beta heiße.»
    Ein paar Cartoonisten werfen Beta beim Hinausgehen neugierige Blicke zu, doch er sieht weg. Er wirkt klug und respekteinflößend, die Sorte bärtiger junger Männer, die sich gewöhnlich Alpha nennen. Aber er hat unruhige Augen und wirft Gegenständen in der
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