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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz
Autoren: Arne Dahl
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    Es war ein Abend Anfang Mai. Und es war vollkommen windstill.
    Nicht der kleinste Windhauch kräuselte das Wasser von Saltsjön. Der Wimpel des Kastells draußen auf Kastellholmen hing schlaff herunter. Die gezackten Fassaden von Skeppsbron lagen wie eine Kulisse in der Ferne. Kein Zucken fuhr durch die Flaggen um Stadsgården, nicht eine Baumkrone regte sich oben an der Fjällgata, und das Grün von Mosebacke zeigte nicht die kleinste Bewegung. Das einzige, was das dunkle Wasser des Beckholmsunds von einem Spiegel unterschied, war der vorübertreibende regenbogenfarbene Schimmer von ausgelaufenem Öl.
    Einen Augenblick lang war das Spiegelbild des jungen Mannes von einem fast perfekten konzentrischen Regenbogenkreis umgeben, wie im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs, doch dann löste der Kreis sich auf und glitt langsam, in ständig wechselnden Formen hinunter nach Beckholmsbron. Der junge Mann schüttelte das Unbehagen ab, das ihn flüchtig gestreift hatte, und zog sich die erste Straße rein.
    Dann lehnte er sich auf der Parkbank zurück, ließ die Arme über die Rückenlehne hängen und hob das Gesicht zu dem glasklaren Himmel auf, der sich spürbar verdunkelte. Er horchte in sich hinein: keine nennenswerte Wirkung. Nur die selbstsichere Ruhe, die für einen kurzen Augenblick erschüttert worden war. Mit einem herausfordernden Lächeln betrachtete er die Spielkarte, die offen auf der Parkbank neben ihm lag. Pikdame. Darauf lag die zweite Straße bereit.
    Er rollte den Schein auseinander und leckte die Reste des weißen Pulvers ab. Dann hielt er ihn vor sich und betrachtete ihn. Tausend Kronen. Ein schwedischer Tausender. Alter Mann mit Bart. An dem alten Sack würde er sich in den nächsten Monaten satt sehen, soviel war klar. Er rollte den alten Sack wieder zusammen und hob vorsichtig die Pikdame hoch. Er fühlte sich doppelt mutig, doppelt stark. Sich nach nur ein paar Wochen in einer neuen Stadt in einem neuen Land auf eine öffentliche Parkbank zu setzen und Kokain zu schnupfen, das war schon mutig genug, aber es wurde doppelt mutig durch das Risiko, daß ein plötzlicher Windstoß sich mit dem ganzen Rausch auf und davon machte.
    Doch es war ja vollkommen windstill.
    Es waren inzwischen zwei Straßen nötig, damit der Rausch sich einstellte. Daß er bald drei brauchen würde, bald vier und bald fünf, daran verschwendete er keinen Gedanken, als er die Röhrenform des alten Sacks an die Köstlichkeiten der schwarzen Dame führte und sich das Paradies reinzog.
    Es kam. Wenn auch nicht mit einem Schlag wie früher, diesem Baseballschläger mitten in die Fresse, sondern schleichend, ein unmittelbares, unersättliches Verlangen nach mehr.
    Der Rausch nahm langsam aber sicher zu und ließ allmählich das Gesichtsfeld zur Seite abdriften, leicht geneigt, aber Windstöße brachte er nicht hervor. Die dunkler werdende Stadt lag noch immer in völliger Windstille da, fast wie auf einer Ansichtskarte. An den Fassaden gingen schon hier und da Lichter an, in der Ferne glitten lautlos die Lichtkegel der Autos dahin, und der ein wenig modrige Duft erstaunten Frühlings wurde plötzlich verstärkt zu einer Kloake, zum Kot von ein paar gigantischen Giraffen, die sich zu dem verzerrten Geräusch greller, hallender Kinderschreie wie aus dem Nichts über ihm erhoben. Das ihm, der Tiere haßte. Tiere jagten ihm Angst ein, seit seiner Kindheit hatte er Tiere gehaßt. Und dann diese monströsen, stinkenden, schreienden Giraffen, ein Alptraum. Eine kurze Ahnung von Panik durchfuhr ihn, bevor er erkannte, daß die Giraffen große Werftkräne waren, und hörte, daß die Kinderschreie vom nahe gelegenen Tivoli kamen, das gerade für die Saison eröffnet worden war. Und der Gestank von Giraffenkot verzog sich und war wieder ein Stück erstaunter Frühling.
    Zeit verging. Viel Zeit. Fremde Zeit. Er war woanders. In einer anderen Zeit. Der Zeit des Rauschs. Einer unbekannten. In seinem Innern begann es zu grollen. Er stand auf und sah die Stadt an, als betrachtete er einen Feind. Stockholm, dachte er und hob die Hand. Du brutal schöne Miniatur einer Großstadt, dachte er und ballte die Hand zur Faust. So leicht zu erobern, dachte er und erhob die Faust gegen die Stadt, als sei er der erste, der dies tat.
    Er wandte sich in dem unaufhaltsam zunehmenden Dämmerungsdunkel um. Sein Gesichtsfeld war noch immer ein wenig schief, die Geräusche und Gerüche waren noch leicht verzerrt. Kein Mensch in der Nähe. In der ganzen Zeit hatte er keinen
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