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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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Feiglinge. Das trifft überall auf der Welt zu, doch die Jugendlichen aus der Balaji Lane sind ungewöhnlich ängstlich. Sie haben Angst vor allem: vor dem Leben, vor der Zukunft, davor, dass ihre Freunde sie überflügeln, dass sie vom Fahrrad fallen. Sie haben Angst vor großen Lastwagen und großen Männern und schönen Frauen. Das Einzige, was sie nicht ängstigt, ist Differential- und Integralrechnung.
    Ohne die Entwicklungshemmung, die ihnen die lange, qualvolle Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung für die Ingenieurschule bescherte, wären sie vielleicht anders geworden. Vom Tag ihrer Geburt an, als man feststellte, dass sie einen Penis hatten, war ihr Schicksal besiegelt – dass sie nämlich eines Tages das JEE, die Aufnahmeprüfung für das Indian Institute of Technology bestehen mussten, die schwerste Prüfung der Welt, wie ihre Väter sagen. Nur einer von hundert bestand sie, und in ihrer Wohnsiedlung hatte sie in den letzten zwanzig Jahren keiner mehr geschafft. Ihre Väter erklären ihnen Tag für Tag mit gezückten Ledergürteln, dass einzig diese Aufnahmeprüfung über ihr Leben entscheidet, weil sie nur so Stipendien bekommen und nach Amerika gehen können. In einer Straße, in der jeder Junge weiß, dass seine Zukunft von einer einzigen Multiple-Choice-Prüfung abhängt, ist es durchaus passend, dass die vier identischen Gebäude A, B, C und D heißen.
    Als die drei Jungen an Ousep vorbeigingen, hörte er den einen sagen: «Tangens 2x ist gleich?» Woraufhin die beiden anderen wie aus der Pistole geschossen antworteten: «Zwei Tangens x dividiert durch eins minus Tangens x hoch 2.»
    ~
    Der Junge sieht Ousep auf sich zukommen und wendet das Gesicht ab, wie ein verletzter Liebhaber, der sich um keinen Preis versöhnen will. Sai Shankaran, ein enger Freund von Unni, warte, so hieß es einhellig, jeden Morgen an der Liberty Haltestelle auf den Bus. Ousep ist in den letzten Wochen fast jeden Morgen hier gewesen und hat ihn gepiesackt. Sai behauptet, er habe ihm alles gesagt, was er wisse, und habe dem nichts hinzuzufügen. Doch Ousep glaubt ihm nicht und will ihn in die Knie zwingen, was nicht sehr schwierig sein dürfte. Sai war siebzehn, als ihn sein Vater vor seinen Freunden ohrfeigte, weil er Karten spielte. Jetzt ist er zwanzig, wirkt aber immer noch wie ein Junge, der von älteren Männern einiges einstecken muss.
    Sai steht auf seine rückgratlose Art da, jung und altmodisch, wissbegierig, ohne klug zu sein, mit einer dicken Edelstahlarmbanduhr am Handgelenk, seinem schwarzen, geölten Haar und der braven Frisur. Er sieht aus wie ein alter Mann von heute in jungen Jahren.
    Er war durch alle ingenieurwissenschaftlichen Aufnahmeprüfungen gefallen und hatte bei den zentralen Oberstufenabschlussprüfungen nur neunundachtzig Prozent erzielt, was bedeutete, dass er die furchtbare Schande auf sich nehmen und an irgendeinem altbackenen College für Geistes- und Naturwissenschaften Physik studieren musste, an dem sich sonst nur Jesuitenbrüder und Blinde für das Studium der englischen Literatureinschreiben. Er ist bald mit dem Studium fertig, hat sich aber immer noch nicht ans Scheitern gewöhnt, weshalb er wie ein Gespenst durchs Leben geht und vermutlich alle Cousins und Freunde meidet, die Ingenieurwissenschaften studieren. Sai wird lernen, eines Tages wieder glücklich zu werden, und er wird sich sogar vorstellen können, dass er etwas wert ist. Noch weiß er es nicht, doch dass er das schaffen wird, ist einfach eine Tatsache. Ehrgeiz ist die Fähigkeit zum Unglücklichsein, und die hat Sai zur Genüge.
    Eines Tages wird er in den Vereinigten Staaten landen, genau wie fast alle seine Klassenkameraden. Und eines Abends wird er seine alten Freunde in einem vegetarischen Restaurant treffen. Wenn ihnen der Gesprächsstoff ausgeht, wird einer milde lächelnd sagen: «Wisst ihr noch – Unni Chacko?» Und in der Stille, die anschließend eintritt, wird er sich sagen, dass Unni Chacko ihn zwar einst ausgelacht haben mochte, dass Sai aber allem Anschein nach der Gewinner ist und Unni schon vor langer Zeit verloren hat.
    Sai und Unni müssen ein merkwürdiges Gespann gewesen sein. Sai, immer verkrampft und sich abmühend, immer voller Angst, er könne ein Schwachkopf sein, und von Kindesbeinen in dem Glauben erzogen, Intelligenz sei nichts als mathematische Begabung. Unni, der auf unbekümmerte Weise gut aussah, ging mit dem Laisser-faire eines Künstlers durchs Leben. Man kann sich schwer vorstellen, dass
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