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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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sein mochte. Doch er bekam ein christliches Begräbnis. Der Beerdigungsgottesdienst fand in der Fatima-Kirche statt. Es war das erste Mal seit über zwanzig Jahren, dass Ousep eine Kirche betrat. Fremde trugen den Sarg den Gang hinunter zum Altar. Ousep ging hinter ihnen. Den Arm um die Schulter von Unnis Muttergeschlungen, schritt er mit ihr langsam an den leeren Kirchenbänken entlang. Dass sie nicht weich in den Knien wurden, die stummen Eltern. Die Fremden stellten den Sarg vor dem Altar ab und entfernten sich. Das Licht ging an, und in die Ventilatoren, die an langen weißen Stangen von der Decke hingen, kam Leben. Es herrschte so tiefe Stille, dass Ousep das Sirren der Neonröhren hören konnte. Mariamma saß auf dem Boden neben dem Sarg. Sie umfasste die leblose Hand ihres Sohns und rieb sie langsam. Ousep stand neben ihr, die Hände in die Hüften gestemmt, und fragte sich, was er tun sollte. Was tut ein Vater bei der Beerdigung seines Sohnes?
    Ein kleiner, stämmiger Mann in weißer Soutane stellte sich an den Sarg und faltete die Hände vor dem Unterleib. Nach einer Weile sagte er: «Sie sind sicher Ousep Chacko.»
    «Ja.»
    «Ich habe Sie noch nie gesehen.»
    «Ich komme nie hierher», sagte Ousep.
    «Am Ende kommen alle hierher, nicht wahr, Ousep? Die Hochwohlgeborenen und die Niedergeborenen, sie alle kommen irgendwann. Ihre Gattin ist ein guter Mensch. Sie ist eine fromme Frau.»
    «Ja.»
    «Sie ist wie ein Kind.»
    «Ja, das stimmt.»
    «Ich möchte Ihnen etwas sagen, Ousep», erklärte der Mann leise und nahm Ousep beiseite. «Wir sind hier im Tempel der Wahrheit, aber wir sind auch von dieser Welt, wir denken pragmatisch. Mir ist zu Ohren gekommen, wie der Junge gestorben sein soll, die Leute reden so allerlei. Ich möchte das gar nicht wissen, denn es tut nichts zur Sache. Wenn er tatsächlich tot ist, will ich ihn beerdigen. Doch sagen wir, dass es ein Unfall war. Das sagen wir heute und alle Tage.»
    «Ganz wie Sie wünschen.»
    «Der Junge war tief in seinem Inneren ein braver Junge. Aber er war nicht ganz normal.»
    Ousep sah sich den Priester genau an. Eine fünfzigjährige Jungfrau, ein ausgewachsener Mann in weißem Talar, der sich für einen Elf hielt, der die Menschen mit Gott verband – dieser Clown hielt Unni für sonderbar.
    «Ousep», sagte der Priester, «manche Jungen gehen zu weit. Wir können nichts dagegen tun. Sie gehen einfach zu weit.»
    Seine schmalen Augen flackerten triumphierend. Diesen Triumph sollte Ousep in Zukunft noch oft in den Augen der anderen sehen.
    Der Priester ließ ihn allein und erschien einen Augenblick später vor dem Altar. Dann sprach er zu der leeren Kirche: «Wir sind heute gekommen, um uns an Unni Chacko zu erinnern, den Sohn von Ousep Chacko und Mariamma Chacko. Ein siebzehnjähriges Kind, das so rein war, dass Gott es in den Himmel hat kommen lassen. Unni war sehr begabt und ein kluger Junge. Er war ein guter Mensch, und alle haben ihn geliebt.»
    Das war alles. Das war Unni Chackos Leben in der Version eines Schwachsinnigen, der vor leeren Kirchenbänken sprach.
    Der Priester wischte sich den Mund und sagte seine Gebete, wobei er sich langsam und müde bewegte und seine Blicke über die Wände, den Fußboden und die leeren Bänke gleiten ließ. Einen Moment lang ruhte sein Blick auf Mariamma – länger, als er beabsichtigt hatte, und dann verschwand die Leere aus seinen Augen, er wirkte beunruhigt und fing zerstreut an zu beten.
    Ousep sah seine Frau an. Sie hatte die Lippen eingezogen, hielt den Kopf schräg, starrte wütend das riesige Kruzifix auf dem Altar an und drohte mit dem Finger.
    ~
    Mariamma Chacko beißt sich so heftig auf die Lippen, dass ihr Kopf zu beben beginnt und ihr Blick wach wird. Sie steht vor der kahlen, gelben Wand und hat den Zeigefinger drohend erhoben. Mit zitternder Stimme erzählt sie der Wand von Ouseps Mutter und von seinen neun Schwestern, allesamt unvergesslich dumme Kühe, wie nur Keralas Erde und Klima sie hervorbringen können. Mariamma gerät manchmal in diese Zustände und nimmt dann nicht mehr wahr, was um sie herum geschieht. Doch diesmal stört ein seltsames Summen den Mittagsfrieden. Es ist ganz eindeutig Männergemurmel, dem jedoch die Schadenfreude fehlt, der man bei Autounfällen begegnet. Die Stimmen sind ganz leise, so, als versuchten die Männer, still zu sein – in Madras ein Ding der Unmöglichkeit, sobald sich irgendwo mehr als eine Person befindet. Während das Murmeln lauter wird, wird Mariammas
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