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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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eine Menge über Unni Chacko zu sagen, und was sie erzählen, zeigt, dass er einen überraschend weiten Horizont hatte. Warum er am Ende Hand an sich legte, kann jedoch keiner von ihnen erklären. Ousep fragt sich, ob überhaupt jemand weiß, warum sein Sohn starb, und ob er das Rätsel je lösen wird.
    Dass ein Rätsel eine Lösung haben muss, ist natürlich keine Selbstverständlichkeit, sondern ein weiteres Täuschungsmanöver der Schriftsteller – ein Kunstgriff, wie die Vorstellung von Anfang, Mitte und Ende. Werden Rätsel im wirklichen Leben gelöst? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür? Hat es je einen Menschen auf Erden gegeben, der eine Antwort gesucht und sie auch gefunden hat?
    Ousep sucht jetzt schon drei Jahre lang, und zwar seit jenem Samstag, als er nach dem Mittagessen mit dem Ministerpräsidenten in die Redaktion zurückkam. Fast die gesamte Belegschaft, über zwanzig Leute, standen dicht gedrängt um seinen Schreibtisch. Ihm fiel auf, dass sie nervös wurden, als sie ihnkommen sahen, und ihn anstarrten. Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und blickte sie an. Einen solchen Augenblick erlebt jeder irgendwann. Er kommt per Telefon, durch einen Fremden, der an die Haustür klopft, oder eben auf diese Weise – wenn man an den Schreibtisch zurückgehen will, um schnell eine Zeitungsmeldung zu schreiben, warten ein paar Leute auf einen. Und dann nimmt einer allen Mut zusammen und sagt: «Ousep, Ihr Sohn ist tot. Er ist von der Dachterrasse gestürzt, sagen die Nachbarn.»
    Als Ousep im Krankenhaus ankam, sah er Thoma mit einem Nachbarn am Eingangstor stehen. Ousep fiel ein Stein vom Herzen, und er war außer sich vor Freude. Offenbar hatte man ihn falsch informiert. Sein Sohn war quicklebendig, Thoma war am Leben. Doch aus irgendeinem Grund stand der Junge vor dem Krankenhauseingang. Und dann bekam Ousep zum ersten Mal im Leben eine Heidenangst. Handelte es sich etwa um Unni? Wie war das möglich? Nur kleine Kinder fielen irgendwo herunter und starben, oder? Und wenn es jemanden gab, der genau wusste, wohin er trat, dann war es Unni. Ein paar Minuten später sah Ousep den Leichnam in der Kühlkammer, den reglosen, kalten Körper von Unni Chacko, einem Jungen von siebzehn Jahren. Am Abend erzählte man ihm nach und nach die absurdeste Geschichte, die er je gehört hatte.
    Unni war kopfüber von der Dachterrasse gesprungen. Ausgerechnet Unni. Warum bloß? Das weiß bisher immer noch niemand. Drei Jahre später hat immer noch keiner die leiseste Ahnung.
    Es gibt jedoch ein paar Tatsachen, die sich nicht wegdiskutieren lassen: Vor drei Jahren, am 16. Mai 1987, verließ Unni Chacko, nachdem er die ganze Nacht an einem Comic gearbeitet hatte, morgens das Haus und blieb fast vier Stunden fort. Niemand weiß, wo er während dieser Zeit war. Um zwölf Uhr mittags ließer sich die Haare schneiden. Dann ging er zum Block A zurück und spielte mit den Jungen Kricket. Er warf den Ball, Schlagmann war er nicht gerne. Dann beschloss er, nach Hause zu gehen. Er stieg die Treppe hinauf, und was dann geschah, ist nicht ganz klar. Er muss in die Wohnung im dritten Stock gegangen sein, dem obersten Stockwerk, doch niemand sah ihn im Treppenhaus oder vor der Wohnungstür. Seine Mutter war nicht zu Hause, sie war bei einer Gebetsversammlung. Nur sein jüngerer Bruder Thoma war in seinem Zimmer und schlief fest. Aller Wahrscheinlichkeit nach ging Unni in die Wohnung. Tagsüber ist sie weder verriegelt noch abgeschlossen, sodass er, ohne zu klingeln, hineingelangt sein könnte. Ungefähr zwanzig Minuten, nachdem er im Haus verschwunden war, hat man ihn auf der Dachterrasse gesehen. Sechs Augenzeugen zufolge – drei Jungen, die sich auf der Dachterrasse von Wohnblock A befanden, und drei Frauen, die vom Wohnblock B aus alles genau sehen konnten – stand Unni ruhig und beherrscht auf dem Geländer. Dann hielt er einen Moment inne, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und stürzte sich hinunter. Er fiel auf den Betongehweg neben der Spielwiese und war angeblich sofort tot. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief. Die zentralen Abschlussprüfungen lagen bereits mehrere Wochen zurück, und irgendwie hatte er achtundsiebzig Prozent erreicht. Er hatte nicht vor, auf ein normales College zu gehen, aber Pläne hatte er sehr wohl, viele sogar. In sechs Wochen wäre er achtzehn geworden.
    Ousep wusste damals nicht, dass Unni vielen Leuten erzählt hatte, er sei Hindu, ein atheistischer Hindu, was immer das
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