Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Autoren: Daniela Krien
Vom Netzwerk:
Kapitel 1
    ES IST SOMMER, heißer, herrlicher Sommer. Der Hof ist ein Dreiseithof. Das langgestreckte freistehende Wohnhaus in der Mitte hat zwei Etagen und einen großen Dachboden; linker Hand schließt sich die Scheune an; ein großes hölzernes Tor führt vorn hinein und an der Rückseite wieder heraus. Einige Meter dahinter gibt es einen breiten, flachen Holzbau – das Sägewerk. Wiesen und Weiden erstrecken sich bis zum Fluss; ein Stück flussaufwärts, kurz vor einem alten Wehr, steht ein halb verfallener Schuppen. Am anderen Ufer erhebt sich steil ein dicht bewaldeter Hang.
    Das rechte Seitengebäude beherbergt die Rinder und Hühner. Dahinter, in einem aufgeständerten Holzhäuschen, das mit Sägespänen und Heu eingestreut ist, haben die Gänse ihren Platz. In einem Anbau, der den gut dreißig Meter langen Stall um weitere zehn Meter verlängert, stehen die Fahrzeuge. Auch hier, wie in Scheune und Stall, führen ein großes Tor hinein und ein ebenso großes in der Rückwand wieder heraus. Schaut man von dort aus nach links, erblickt man am Rande des Gemüsegartens den Schafstall; geradeaus sieht man eingezäunte Wiesen und den Bahndamm und, hinter den Schienen, in einiger Entfernung, doch klar erkennbar: den Henner-Hof.
    Der Brendel- und der Henner-Hof sind die größten Höfe im Ort. Beim Henner, sagt man, sei alles noch wie vor dem Krieg: die Möbel, die Öfen, die Fußböden, die undichten kleinen Fenster. Kalt muss es dort sein im Winter. Die Brendels sind da moderner; sogar eine Zentralheizung haben sie. Betritt man das Haus, geht man ebenerdig in einen kleinen Vorraum. Links und rechts führen Türen in Küche und Wohnräume, geradeaus geht eine Treppe nach oben; hinter der Treppe befinden sich die Tür zum Gemüsegarten und der Eingang zum Keller.
    Die unteren Zimmer werden von Siegfried, Marianne und Lukas bewohnt, die oberen von Frieda und Alfred, der Dachboden gehört uns, Johannes und mir.
    In der Küche, dem größten aller Räume, steht noch der alte Küchenofen, auf dem auch gekocht werden kann. Die Großmutter Frieda aber hat sich längst an den Elektroherd gewöhnt. Die Sitzmöbel sind älter als die Frieda, der große Esstisch in der Mitte und das wuchtige Küchenbüfett ebenfalls. Nur die Hängeschränke und eine Arbeitsplatte stammen aus der DDR-Zeit. Alles ist sauber und aufgeräumt; doch düster ist es immer. Jetzt, im Sommer, stehen die Fenster meistens offen. Es sind alte Fenster mit drehbaren Knäufen; weiße Lackfarbe bröckelt von den Rahmen. Die niedrige Decke bedrückt und beschützt zugleich.
    Siegfried, der Vater, sitzt am Tisch. Der mächtige Schatten der Kastanie im Hof lässt nur kleine Fetzen Abendlicht durch die Fenster hinein. Keiner spricht; die Gesichter der Familie sind so spärlich beschienen, ich erkenne sie kaum.
    Nach und nach setzen sich auch die anderen. Die Mutter Marianne, Frieda, die Großmutter, der alte Alfred, den man früher Knecht genannt hätte, die Brüder Johannes und Lukas.
    Siegfried schneidet eine daumendicke Scheibe vom groben Brot ab und streicht Butter darauf. Dazu nimmt er einige Stücke einer roten Paprika, die seine Frau vorgeschnitten hat. Er isst langsam, wortlos. Dann lächelt er und sagt: »Es ist gut, dass wir jetzt Paprika kaufen können, ist sehr gesund, wusstet ihr das?« Er schaut hoch, ohne den Kopf zu heben.
    Die Söhne antworten nicht. Marianne, seine Frau, nickt und sagt: »Bald wird’s noch viel mehr geben.« Siegfried nimmt den Teller mit der Paprika und hält ihn Frieda entgegen: »Probier mal, Mutter«, sagt er und nickt ermunternd.
    Ich schaue umher, versuche die Regeln zu verstehen, nach denen hier gelebt wird; ich bin noch nicht lange da. An einem Sonntagmorgen im Mai hat der Johannes zu mir gesagt: »Heute bringe ich dich nicht nach Hause. Die Eltern wollen dich jetzt kennenlernen.« Da bin ich geblieben und nicht mehr fortgegangen. Jetzt haben wir schon Juni.
    Wir essen nun wieder schweigend. Ich höre auf die Kaugeräusche der anderen. Beim Alfred gibt es am meisten zu hören. Er murmelt, ohne den Siegfried dabei anzusehen: »Die Liese kalbt heute Nacht. Alle Anzeichen sind da.« Siegfried nickt und sieht aus dem Fenster rüber zum Stall.
    Johannes erhebt sich schwerfällig und mit gesenktem Blick. »Ich geh noch mal los, Freunde treffen – in der Stadt.«
    »Etwa mit dem Motorrad?«, fragt die Marianne und steht ebenfalls auf.
    »Setzt euch wieder!« Die Stimme des Vaters hat nun den leisen, drohenden Klang, den ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher