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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock
Autoren: Carla Berling
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Gottesdienst
    Heute gehen wir in die Kirche. Am Heiligabend gehe ich immer hin, weil das Krippenspiel so schön ist. Ganz traditionell wird das in unserer Kirche gezeigt. Mit Maria und Josef und dem Kindlein auf Stroh, mit den Hirten und den drei Weisen aus dem Morgenland, mit „O, du fröhliche“ und „Ihr Kinderlein kommet“. Wie es sich für Weihnachten gehört.
    Wir müssen früh los, sonst sind die besten Plätze weg. Um drei sollten wir spätestens da sein, um fünf Uhr beginnt der Gottesdienst.
    Wenn ich nur wüsste, was ich anziehen soll.
    Was sollen die Leute denken, wenn man nicht vernünftig angezogen ist. Chic muss es sein, besonders Heiligabend trifft man die meisten Bekannten.
    Hoffentlich takelt Tamara sich nicht so auf. Wenn sie in ihrem roten Nerzmantel käme, das gäbe Getuschel. Mit Nerz kämen die Leute zurecht, aber nicht in rot. Ich werde das graue Kostüm anziehen. Tamaras Freund wird doch wohl einen Schlips tragen? Das gehört sich Weihnachten so.
    Meine Güte, ist das hier schon voll.
    Typisch, Meiers haben direkt auf dem Kirchplatz geparkt, damit jeder sieht, was für ein dickes Auto sie fahren. Woher die bloß jedes Jahr das Geld für einen neuen Wagen haben? Sicher gibt’s bei denen Tütensuppe und trocken Brot, irgendwo müssen sie ja Abstriche machen. Und wie sie aufgedonnert ist! Trägt man Minirock undStöckelschuhe in der Kirche? Und knallroten Lippenstift? Bisschen viel für meinen Geschmack.
    Helga Müller sieht aus wie ihre eigene Oma. Steppweste und Halstüchlein – damit man den Speck an den Hüften und die Jahresringe am Hals nicht sieht? Und diese Frisur!
    Siekers müssen mindestens seit Mittag hier sein, sonst hätten die keinen Platz in der ersten Reihe bekommen. Immer vorneweg, diese Leute, wenn es um die Kirche geht, aber die Kinder sind vom Gymnasium geflogen. Da hat die ganze Frömmigkeit nichts genutzt.
    Ist das die Möglichkeit? Kalle und Doris sind auch hier! Die hocken jeden Abend im Sachsenkrug. Ich sehe sie vom Küchenfenster aus rein- oder rausgehen. Da saufen sie Pils und Kurze und heute gehen sie in die Kirche. So eine Doppelmoral. Weiß doch jeder, dass sie den Pastor nicht ausstehen können.
    Muss das denn sein, dass die Tellermanns mit allen Kindern kommen? Acht Stück, und sogar das Baby ist dabei. Also, wenn das schreit und die Andacht stört, werde ich mich beschweren.
    Da ist Pastor Geldmacher. Der müsste sich auch mal wieder die Haare schneiden lassen. So lange Koteletten gehören sich nicht für einen Geistlichen.
    „Ja, hier sind noch zwei Plätze frei.“ Konnten die nicht eher kommen? Jetzt muss die ganze Reihe wegen denen aufstehen.
    Huch, ist das voll geworden! Ja, ja, Heiligabend gehen sie alle in die Kirche. Möchte mal wissen, wie viele an einem normalen Sonntag hier sind.
    Ich kann sonntags leider nicht. Das ist der einzige Tag, an dem ich auch mal ausschlafen kann.
    Der vor mir hat einen Eiterpickel im Nacken, wie eklig. Und die Frau daneben stinkt nach Haarspray, das ist nicht zum Aushalten. Dabei hat sie Schuppen. Sie sollte aufs Haarspray verzichten oder keinen dunklen Mantel tragen.
    „Tamara, gib mir mal das Programmheft.“
    Die hätten den Text vom Vaterunser draufschreiben können. Das kann ich heute auch nicht mehr auswendig. Ist schließlich über dreißig Jahre her, seit ich beim Konfirmandenunterricht war. So lange kann ich mir keine Texte merken.
    Hoffentlich hält Pastor Geldmacher die Predigt nicht so lang. Dann kriege ich nämlich das Essen vor acht nicht fertig. Irgendwann will ich ja mal Feierabend haben, auch wenn ich mich freue, dass Tamara und Hassan bis zum zweiten Feiertag bei mir sind.
    Das ist das erste Jahr, in dem ich ohne die Kinder Weihnachten feiere. Die werden sich umgucken, wenn sie heute bei dreißig Grad am Strand sitzen. Heiligabend auf Ibiza. Das ist doch kein Weihnachten. Kein Tannenbaum, kein Gottesdienst, keine Geschenke. Ob sie wenigstens anrufen und mir ein schönes Fest wünschen?
    „Nein, Tamara, ich weine nicht, ich hab was im Auge.“ Hassan ist Türke. Der hat sicher noch nie ein richtiges ostwestfälisches Weihnachten erlebt. Ich bin gespannt, wie es ihm gefällt.
    Darf so ein Moslem überhaupt in unsere Kirche? Ichmeine, von mir aus schon und Pastor Geldmacher hat auch nix dagegen, aber der Guru oder Rabbi oder wie der Vorbeter bei denen heißt, erlaubt der das? Ach, soll mir egal sein, der Mann ist erwachsen und wird wissen was er tut. Ein erwachsener Moslem wird nicht fragen müssen,
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