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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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Eltern sind nicht hier begraben, zusammen mit allen anderen.«
    Mein Herz setzte einen Schlag aus.
    »Meine Mutter wollte in Kiriat Scha’ul begraben werden«, sagte ich. »Und mein Vater   …« Das Wort »Vater« setzte plötzlich etwas in mir in Brand. »Vielleicht lebt er ja noch,vielleicht kommt er eines Tages zurück«, plapperte ich verlegen.
    Noch nie war ich an seinem Grab gewesen. Ich ignorierte seinen Tod und ich ignorierte sein Leben. Die Hitze erfasste meinen ganzen Körper. Sogar jetzt, als nicht mehr junge Frau, wusste ich nicht, wo er begraben war. Ich verstummte.
    »Na, du bist noch genau wie früher, du beschäftigst dich nicht mit deinen Toten. Du liebst nur die Toten der anderen.« Dorit lächelte. »Vielleicht treibt sich dein Vater ja noch in den Wäldern Polens herum, mit seinen Partisanenfreunden, oder er kämpft immer noch den Weg in das im Unabhängigkeitskrieg belagerte Jerusalem frei.« Mit ihren Worten erinnerte sie mich an die vielfältigen Väter, die ich mir in meiner Kindheit erschaffen hatte. Dann schwieg sie.
    Ich entschied mich für die ultimative Version meiner Mutter und sagte: »Mein Vater ist weit weggefahren.«
    »Amerika. Du warst eine Phantastin und eine Phantastin bist du geblieben.« Sie umarmte mich. »Wer kennt uns schon so gut, wie wir einander kennen?« Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und ich nahm das Zucken ihres rechten Nasenflügels wahr, ihren leicht schiefen Schneidezahn. In mir erwachte die alte Zuneigung.
     
    Aber warum   – warum bloß war mein Vater nicht mit allen anderen begraben?
     
    Das alte Erstickungsgefühl packte mich wieder. Ich suchte nach dem Inhalator. »Sie leidet an einem leichten Asthma«, hatte meine Mutter zu Dr.   Wollmann gesagt, als ich noch in den Kindergarten ging. Sie hatte ihn davon überzeugen wollen, obwohl ich noch nie einen Anfall gehabt hatte.
     
    »Schau an, ein neues Modell«, war Dorits Reaktion, als sie den Inhalator sah, den ich einen Moment lang in der Hand hielt. Wie üblich war das Erstickungsgefühl wieder weg, als wäre es nie dagewesen. Ich steckte den Inhalator zurück in die Tasche.
    »Oh, wow! Ich glaube es nicht!«, hörte ich plötzlich eine bekannte Stimme rufen.
    Bracha Poschibuzki, die Tochter des Glasers, stand vor uns, in Keilabsatzsandalen und einem geblümten Kleid, das ihr zwei Nummern zu groß war, und mit einem vollgestopften Rucksack auf dem schmalen Rücken.
    »Was gibt’s Neues?«, fragte sie Dorit und mich.
    »Eine Beerdigung«, sagte ich.
    »Oh.« Plötzlich erinnerte sich Bracha wieder daran, dass auch sie wegen der Beerdigung gekommen war. »Oh, es tut mir leid, ich bin zu spät dran, ich bin nicht rechtzeitig von der Arbeit weggekommen, aber ich hatte es wirklich fest vor«, entschuldigte sie sich. »Ich habe sogar meine Mutter mitgebracht, sie ist noch auf dem Weg, wird aber gleich hier sein. Ihr wisst doch, dass ich noch immer mit ihr zusammenlebe. Im selben Haus, im selben Zimmer«, verkündete sie uns. Und bedeutungsvoll fügte sie hinzu: »Ich werde sie nie im Leben im Stich lassen.«
    Dorit machte dicht. Ich auch.
    Bracha schaute mich an. »Nun, wie geht’s unserer Schriftstellerin?« Und zu Dorit gewandt, fragte sie: »Und wie geht’s der barmherzigen Schwester?« Ohne auf eine Antwort zu warten, teilte sie mir mit: »Ich bin Archivarin, ich leite das Archiv der Organisation der Nazi-Opfer.« Ihr Blick veränderte sich. »Wo ist eigentlich Itzik?«, fragte sie Dorit.
    Dorit antwortete nicht. Die Härchen auf ihren Armen sträubten sich.

    Ich erinnerte mich daran, wie ich mich damals an Itzik Rosenfeld dafür gerächt hatte, dass er den Aufsatzwettbewerb gewonnen hatte. In der Pause hatte ich in seiner Schultasche herumgewühlt und ein Blatt mit einem Gedicht gefunden, das er geschrieben hatte. Itzik   – ein Dichter? Ich wunderte mich.
    »Weh, wie nur fällte die Axt des Satans
    den mächtgen, sturmgesättigten Stamm?
    Weh, wie nur wurde es erstickt, verbrannt, ermordet
    unser Volk   – vom Greis bis zum Jüngling?«
    Ich las die erste Strophe und verstand nichts von dem Gedicht, aber ich freute mich, dass der Schwarm aller Mädchen ein Trottel war. Das lange Gedicht, das noch viele Strophen hatte, deponierte ich auf Brachas Tisch.
    »Bracha gewidmet«, schrieb ich an den Rand.
    Als der Unterricht begann, verkündete Bracha aufgeregt, Itzik habe ihr ein Gedicht gewidmet.
    In der Klasse wurde es still.
    Bracha las alle Strophen des Gedichts laut vor. Die Stille
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