Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
Vom Netzwerk:
nach den Schabbatabenden zurück, ich wollte, dass Chajale Klavier spielte und tanzte,dass sie unsere bösen Geister vertrieb, ich wollte, dass meine Mutter wieder mit meinen Freunden sprach und mir meine widerborstigen Locken kämmte.
     
    »Weißt du«, sprach Golda weiter, »ich habe mich immer gewundert, dass du von allen Leuten des Viertels nur mich nie nach deinem Vater gefragt hast. Vielleicht war das gut so, dass du nicht zu mir gekommen bist, letztlich hast du genau das getan, was deine Mutter gewollt hat. Sie wollte dir Leid und Schmerz ersparen. Sie hat jede Gefahr von dir ferngehalten, sie hat dir jede Information verschwiegen, die dich hätte traurig machen können. So hatte sie sich entschieden, das war ihre Art, dich zu schützen. Sie hat das ganze Leid und den ganzen Schmerz auf sich genommen.«
     
    Am Ende des Gedenktags für die Gefallenen, kurz bevor der Unabhängigkeitstag begann, brachen wir alle auf, fuhren zunächst im Konvoi Richtung Süden, nach Tel Aviv. Die Nacht war über das Emek gesunken. Ich fuhr langsam, bald verlor ich die Autos von Bracha und Chajale aus den Augen, ich war allein auf dieser Fahrt.
    »Das Anzünden der zwölf Fackeln, für die zwölf Stämme Israels«, klang es aus meinem Autoradio. »Die Fackelanzünder werden gebeten, ihre Plätze einzunehmen.« Die Stimme des Sprechers bei der Zeremonie auf dem Herzlberg erfüllte das Wageninnere.
     
    Mein Mann rief an.
    »Wie war es?«, fragte er vorsichtig.
    »Frag nicht«, antwortete ich mit erstickter Stimme.
    »Wann bist du hier?«, wollte er wissen.
    »In einer Stunde.«
    »Wir gehen also nicht zur Unabhängigkeitstagsparty?«, fragte er.
    Ich wollte eigentlich nein sagen, aber zu meiner eigenen Überraschung brach es aus mir heraus: »Doch, wir gehen, selbstverständlich gehen wir.«
    Alles hat seine bestimmte Zeit, es gibt eine Zeit zu weinen und eine Zeit zu lachen. Ich werde es zu trennen wissen, versprach ich mir selbst.
    Plötzlich fiel mir ein, dass der Mohnkuchen, den ich gebacken hatte, noch im Auto lag. Ich würde ihn also trotz allem noch mit Schokolade überziehen können.
     
    »Wir tragen Fackeln, in dunkler Nacht, die Pfade leuchten zu unseren Füßen«, sang der Chor im Hintergrund.
    Dann war die Zeremonie zu Ende, die Straßenlaternen gingen an, die israelischen Fahnen wehten im Wind und am Himmel waren die ersten Feuerwerkssalven zu sehen, die den Beginn des Festes zum Unabhängigkeitstag verkündeten.
    Feuerwerkskörper explodierten knallend und blendende Funken sprühten aus den Feuerblumen. Zwischen den Funken und der Dunkelheit blitzte plötzlich eine Landschaft auf, die ich nicht zum ersten Mal sah.
    Hier bin ich schon einmal gewesen, sagte ich mir.
    Mein Herz fing heftig an zu klopfen, ohne dass ich wusste, warum.
    Hatte ich diese Landschaft in meiner Kindheit gesehen? Kannte ich sie von den Ansichtskarten, die meine Mutter bekommen hatte? Führte mich meine Erinnerung in die Irre? Ich starrte aus dem Autofenster.
    Ich sah meine Mutter in ihrem Kostüm und ihrer Frisur fürFesttage. Und ich sah mich, in einem lilafarbenen Kleid, mit Lackschuhen und einem mit großen, bunten Plastikblumen verzierten Haarreif. Ich fuhr langsamer.

    Meine Mutter und ich waren auf einem Sandweg einen grünen Hügel hinaufgestiegen, Hand in Hand.
    »Hier hast du frische Luft, das ist gut für deine Lungen«, hatte sie gesagt. »Dann brauchst du auch keinen Inhalator.«
    Ich brauche doch sowieso keinen Inhalator, hatte ich verwundert gedacht.
    Oben auf dem Hügel blieben wir vor einem alten Gebäude stehen. Das Eingangstor und die Fensterläden waren geschlossen. Die Stille wurde nur von vereinzeltem Husten unterbrochen, von Seufzern, von Stöhnen.
    Meine Mutter gab seltsame Anordnungen.
    »Spring«, sagte sie.
    »Lauf«, bat sie.
    »Sing«, flehte sie.
    Ich konnte mich nicht rühren, ich war wie gelähmt. Insgeheim betete ich darum, auf der Stelle tot umzufallen.
    Meine Mutter wischte sich mit einem gestärkten Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
    Durch den Spalt eines Fensterladens im ersten Stock des baufälligen Gebäudes meinte ich ein Augenpaar zu sehen, eine Stirn, Lippen, ein Lächeln.
    Ich erstarrte noch mehr.
    Gegen Abend verließen wir den Hügel wieder. Meine Mutter ging langsam und mit erloschenem Blick den Sandweg hinunter, ich in ihrem Schlepptau.
    Beide sagten wir kein Wort.
    Auf dem Weg nach unten sah ich ein kleines Holzschild an einer Stange, die zwischen aufgehäuften Steinen im Sand steckte:
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher