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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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1
    ICH KAM SPÄT AM ABEND nach Hause.
    »Hi, Alisa, ich bin’s«, empfing mich die Nachricht auf dem Anrufbeantworter. »Also   … ruf mich zurück.«
    Dorits Stimme hatte den Tonfall, der schlechten Nachrichten vorbehalten war.
    »Ich habe morgen eine Beerdigung«, teilte ich meinem Mann mit.
    »Wieso, wer ist gestorben?«, fragte er.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich.
    »Du und deine Freundinnen«, sagte er und lächelte.
    Am nächsten Morgen, in den Todesanzeigen der Zeitung, fand ich die Antwort. Fejge Friman, Dorits Tante, die legendäre Kindergärtnerin, war von uns gegangen.
     
    Mittags fand ich mich auf dem Friedhof am Rand unseres alten Viertels ein. In der kleinen Schar von Trauergästen entdeckte ich Dorit. Sie warf mir zur Begrüßung einen Blick zu. Ich antwortete ihr mit einem leichten Kopfnicken.
    Dann suchte mein Blick Freunde aus der Kindheit. Aber nur ich war da, stellte ich fest. Das wunderte mich nicht. Seit eh und je war ich es, die treue Anhängerin von Beerdigungen, die sich einfand, zum Begräbnis, zu einem Besuch während der Schiwa und auch zu den Gedenktagen der Toten. Eingeladen und zur Stelle.
    Welch eine Ehre, dachte ich belustigt. Vielleicht, weil ich die Veteranin aller Waisenkinder des Viertels war, und vielleicht, weil auch ich, wie meine Mutter, viele Jahre zu jeder Beerdigung mit einem Mohnkuchen zu erscheinen pflegte. »Das
kichl
von Helena.« Ich erinnerte mich an den Kuchen und lächelte.

    »Wenn wir diese Woche eine Beerdigung haben, dann kommst du mit mir zur Schiwa«, hatte meine Mutter früher an jedem Wochenende zu dem Kuchen gesagt, den sie aus dem »Wundertopf« holte, »aber wenn wir zu einem Geburtstag eingeladen werden, bestreiche ich dich mit Schokoladencreme und wir gehen zusammen zur Feier.«
    Jede Woche wartete im Kühlschrank der Mohnkuchen meiner Mutter auf seine Bestimmung.
    Ich nehme an, dass sogar der Kuchen wusste, was für ein ungenießbares Produkt er war, und dass auch er sich freute, wenn es in der folgenden Woche im Viertel weder eine Beerdigung noch eine Geburtstagsfeier gab und man ihn am Ende in den Mülleimer werfen würde.

    Ich kehrte in die Wirklichkeit zurück. Am Rand der offenen Grube, die auf Fejge wartete, die kinderlose Kindergärtnerin, stand Dorit, ihre Nichte, die wie eine Tochter für sie gewesen war. Ohne eine Träne.
    Dorit Rosenfeld war   – damals wie heute   – auf eine leise Weise schön, sie hatte üppiges, kastanienbraunes Haar und Honigaugen. Das Mädchen mit den besten Karten im Viertel:Dorit hatte nicht nur einen Vater und eine Mutter gehabt, sondern auch einen sehr gut aussehenden Bruder, außerdem eine Tante und einen Onkel. Nur Dorit hatte eine richtige und vollständige Familie.
    Ich betrachtete sie. Das Kastanienbraun war zwar blasser geworden, doch noch immer waren ihre Haare zu einem dicken, beeindruckenden Zopf geflochten, und auch das Lächeln, bei dem man dahinschmolz, und die Honigaugen waren ihr geblieben.
    Vor zehn Jahren war ihre Mutter gestorben, und wir hatten uns genau hier wiedergetroffen, bei der Beerdigung. Unser Kontakt lebte wieder auf, und seither trafen wir uns an jedem Todestag ihres Vaters, an jedem Todestag ihrer Mutter und an jedem Todestag ihres Onkels, Fejges Mann. Dreimal im Jahr trafen wir uns hier auf dem Friedhof, und von hier aus gingen wir ins Kino, in die Nachmittagsvorstellung, nur wir beide. Danach machte sich Dorit immer gleich eilig auf den Weg nach Hause, sie wohnte im Emek Jesreel.
    »Familienfeste« nannte ich unsere morbiden Treffen. Ab heute, dachte ich, haben wir ein Familienfest mehr, ab heute werden wir uns viermal im Jahr treffen.
     
    Die Beerdigungszeremonie näherte sich ihrem Ende. »Fejge kehrt zurück zu Wladek, ihrem Mann, und zu Itta, ihrer Schwester, und zu Schmulik, ihrem Schwager   – die ganze Familie ist wieder vereint«, sagte der Rabbiner und verhaspelte sich fast, so schnell sprach er, er musste zu einer weiteren Beerdigung. Noch bevor die Erde Fejge bedeckte, waren fast alle Trauergäste verschwunden.

    »Wie gut ist es und wie angenehm«, hörte ich Fejges Akkordeon wieder spielen, und diese Erinnerung brachte mir überraschend einen heißen Sommermorgen zurück. Fejge hatte die Kindergartenkinder zum Rhythmikunterricht versammelt, die Kinder bekamen Tamburine, sie spielte begeistert Akkordeon und hatte ausgerechnet Chajale Fink für die Rolle des kleinen Fischs ausgewählt, der zu der Musik im Wasser tanzte. »So kühlen wir den heißen
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