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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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den Weg frei für ein neues Leben.

    Neues Wissen verband sich mit altem Wissen, etwas, was verschlossen gewesen war, war freigelegt worden, etwas, was verborgen gewesen war, war enthüllt worden.
    Selektion.
    Das haben die Deutschen gemacht.
    Das hat auch meine Mutter gemacht.
    Das hat auch meine Mutter gemacht.
    Das hat auch meine Mutter gemacht.
    Wieder und wieder sagte ich es mir, Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort, um diesen Satz unwiderruflich zum Teil meines Lebens werden zu lassen.

    Jakob kam im Sanatorium an. Am ersten Abend fiel es ihm schwer, sein Zimmer zu verlassen. Er schaute um sich, lauschte, eine neue Welt umgab ihn. Und eine alte Angst packte ihn, wie vor Jahren im kalten, feuchten Wald.
    Am nächsten Morgen informierte ihn die Krankenschwester ausführlich über die Sprechzeiten des Arztes, die Behandlungen, das morgendliche Abhusten in den Spucknapf, das Fiebermessen, die Infusionen, die Spritzen und die Punktionen.
    Während sie sprach, spürte er den auf ihn lauernden Tod. Bevor er sich ihm stellte, zog er ein Foto von Helena aus der Tasche, den Beweis für eine andere Wirklichkeit.
    »Das ist meine Frau«, sagte er zu der Schwester und errötete. »Wir erwarten ein Kind.«
    Diese Worte entschlüpften ihm, sie hörte zu. Er erzählte ihr, wie er und Helena sich in der Sanitätsstation des Kibbuz getroffen hatten, von ihrer Hochzeit, von der Wohnung, die er für sie gekauft hatte.
    Dann begann sein Ringen mit dem Tod. Acht Jahre lang rang er. Bis zu seinem Tod.

    Wieder hörte ich Goldas Stimme. »Dr.   Wollmann kam damals zu uns und sagte, deine Mutter würde mich bitten, Bracha nichts davon zu sagen, dass Jakob gestorben ist, über ihn sollte überhaupt nicht gesprochen werden. Ich war böse auf sie, auf ihre Entscheidung, du hast mir so leidgetan.« Sie packte mich am Arm, genau an derselben Stelle, an der sie mich früher immer gepackt hatte. »Ich wusste, dass du fragen würdest, und du,
nebbech
, hast wirklich gefragt, du hast alle gefragt, wo dein Vater war. Aber ich habe Helena auch verstanden.« Ihre Stimme und ihr Griff wurden sanfter. »Was hätte sie dir in all den Jahren sagen sollen, bis er starb? Dass sie sich für dich und nicht für ihn entschieden hatte, dass er deinetwegen in einem Sanatorium eingesperrt war? Und dann war sie in diese Geschichte verstrickt. Wie hätte sie dir aus heiterem Himmel sagen können, dass dein Vater gestorben ist, wenn du gar nicht wusstest, das er noch am Leben gewesen war?«
    Ihre Worte bohrten sich wie Pfeile in mich. Ich sehnte mich danach, dass nichts mehr gesagt werden würde, ich sehnte mich nach Ruhe.
    Golda suchte meinen Blick, aber ich wich ihr aus, ich schaute hinauf zu den vereinzelten Sternen am Himmel.
    Ich wurde zu Stein, mein Körper zentnerschwer, jede Bewegung schmerzte. Golda ließ meinen Arm los, legte mir ihre Hand fest auf den Rücken, als spürte sie, dass ich feststeckte, als wollte sie mich vorwärts schieben, weiter und weiter.
    »Letztlich hat Jakob Glück gehabt, er wusste, dass er eine Tochter hat. Heute glaube ich, dass deine Eltern eine richtige Entscheidung getroffen haben. Zu sterben, wenn man weiß, dass etwas von dir bleibt, ist etwas anderes. Acht Jahre lang hat er gewusst, dass er eine Tochter hat. Erst heute verstehe ich, dass es ein großer Trost ist, zu wissen, dass man etwaszurücklässt, dass nicht alles mit einem zu Ende ist.« Goldas Stimme brach, sie schaute hinüber zu Bracha, die auf dem Parkplatz stand und auf sie wartete.

    Meine Mutter hatte mit Dr.   Wollmann in der Praxis gesessen, ich hatte im Flur allein mit Murmeln gespielt und auf das Ende ihres Arbeitstages gewartet.
    »Viele Jahre lang habe ich davon geträumt, in der Entbindungsstation zu arbeiten«, hörte ich sie sagen. »Aber ihretwegen kann ich das nicht. Ich kann keine Nachtschichten machen, ich kann sie nachts nicht allein lassen.«
    Ich verstand, dass ich an allem schuld war. Obwohl sie Jiddisch sprach, obwohl sie flüsterte.
    Ich ging hinein, ich wollte ihr versprechen, dass ich bald sterben würde, dann könnte sie in der Entbindungsstation arbeiten, doch da sah ich, dass Dr.   Wollmann sie umarmte.
    Ich blieb wie erstarrt stehen.
    »Helena,
kochanie
10 , du weißt doch, welch ein großes Glück es ist, dass sie dir geboren wurde«, sagte er mit sanfter Stimme. Ich sah, dass sie sich die Tränen mit seinem karierten Taschentuch abwischte.

    Auf einmal wollte ich wieder nichts mehr wissen. Ich wollte phantasieren. Ich sehnte mich
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