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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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ein Lächeln.
    Die unermüdliche Chajale nahm ein Album nach dem anderen, ihr Blick schweifte über all die Fotos aus unserer Kindheit, vom Kindergarten bis zur Militärzeit. In ihrem Sog versank auch ich in die Betrachtung der Bilder. Dorit wickelte sich in ihren Pullover.
    »Bei ihnen waren Tattoos schon damals modern«, sagte Chajale und deutete auf die Nummern auf den Armen unserer Eltern. Vermutlich wollte sie Dorit aufheitern. Dann blieb Chajales Blick an einem Foto unserer Mütter hängen. Es war an Brachas Bat Mizwa aufgenommen worden, alle trugen ihre langen Satinkleider, die sie nur zu besonderen Anlässen aus dem Schrank holten und die nach Mottenkugeln rochen. Chajale drehte noch eine Pirouette: »Hollywood, wir sind in Hollywood aufgewachsen.«
    Ich hatte genug von Chajales Kommentaren und auch vonden Fotos. Ich brauchte eine Pause. Wieder betrachtete ich Dorits Gesicht und erinnerte mich daran, wie sie gesagt hatte: »Komm, lass uns von hier verschwinden.«
     
    Vom Parkplatz herüber waren die quietschenden Bremsen eines Autos zu hören, wir schreckten auf, das Gespräch wurde unterbrochen.
    »Ho-ha, wer kommt denn da«, trällerte Chajale, »der Hitler aus Germania   …«
    Bracha tauchte auf dem Weg auf. Wir wurden alle drei von einem hysterischen Lachen gepackt. Ein Lächeln breitete sich auf Brachas Gesicht aus, als sie uns lachen sah, doch sofort fiel ihr wieder ein, dass man hier den Toten ehren und die Hinterbliebenen trösten musste.
    »Das hast du nicht verdient, bei Gott, das hast du nicht verdient«, sagte sie mit ernster Stimme zu Dorit. »Wenn er nur gestorben wäre, aber Selbstmord! Das ist das Schlimmste!«
    Brachas Trost löste bei uns einen erneuten Lachanfall aus. Erst der Anblick von Golda, die nun auf uns zukam, erstickte das wilde Gelächter.
    Dorit stand auf und ging ihr entgegen. Golda schloss Dorit in die Arme, drückte sie an ihr Herz, Dorit versank in ihrer bergenden Umarmung. Dorits Schultern, schmal und zerbrechlich, bewegten sich im Rhythmus des Weinens wie die Flügel eines verängstigten Vogelkükens.
    Ihr Weinen steckte Chajale und mich an.
    Ich wusste, dass diese Tränen allen Toten galten, allen Sehnsüchten, allen Qualen, allen Wundern, allen Errettungen und allen Kriegen in unserem Leben und im Leben unserer Familien.
    »Das halte ich nicht aus«, sagte Chajale laut.
    »Sag deinem Adi, dass ich im Auto Hühnersuppe habe, Fleischklopse und Püree und noch ein paar andere gute Sachen«, befahl Golda ihr. Erst da fiel mir ein, dass ich den Mohnkuchen auf dem Beifahrersitz hatte stehen lassen. Ich hatte aber nicht die Kraft, aufzustehen und ihn zu holen.
    Chajale tat, was Golda verlangt hatte. Sie machte sich auf den Weg zu Adi. Ich schaute auf Bracha, die wie ein hyperaktives Kind zwischen den Beeten umherstreifte, hin und her, her und hin. In einer Ecke des Gartens sah ich den Rasenmäher auf der Wiese liegen, bezwungen und besiegt, wie ein totes Pferd auf dem Schlachtfeld.
     
    Adi, Chajale und Aksam tauchten oben auf dem Weg auf, der vom Parkplatz zum Haus führte. Adi drückte einen Suppentopf an sich, Chajale ein riesiges Glas mit
rogelach
. Aksam trug einen Korb mit weiteren Essensvorräten.
    Wir versammelten uns alle in der Küche. Golda übernahm das Kommando, sie sorgte dafür, dass das Essen in den Töpfen aufgewärmt wurde, nach ihren Anweisungen auf dem Gasherd oder im Backofen. »Nur nicht in der Mikrowelle«, warnte sie. »Bei einer Schiwa muss wenigstens das Essen gut schmecken. Und zuerst bekommt Dorit einen großen Teller Hühnersuppe. Für eine Beerdigung braucht man viel Kraft.«
    Dorit setzte sich gehorsam an den Tisch, um sich, wie befohlen, mit der Hühnersuppe zu stärken, die inzwischen aufgewärmt worden war. Aber sie rührte den Teller vor sich nicht an.
    Golda stellte sich neben sie, packte sie am Arm und rief sie zur Ordnung. »Du hast Kinder, ein Haus, Essen, einen Beruf und du hast auch einen Staat.« Offenbar fand nur sie die richtigen Worte, sie besaß das Rezept dafür, wie man alles überstand.
    »Kinderlach«
, sagte sie und bedeutete uns mit einer Handbewegung, wir sollten Dorit mit ihrer Suppe allein lassen und in den Garten gehen.
    Sie begleitete uns und nutzte die Gelegenheit, Chajale und mir Verhaltensregeln zu geben. »Ihr solltet viel mit ihr über früher sprechen, ihr wisst ja, alte Schmerzen tun weniger weh. Ihr müsst Dorit Kraft geben.« Dann schenkte sie uns ein winzig kleines Lächeln. »Und für mich bitte ich nur um
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