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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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Wüstenwind«, sagte Fejge mit einem eingeschrumpften Lächeln.
    Ich hasste die Rhythmikstunden, ich hasste das Akkordeon, die Tamburine und auch Chajale, die Angeberin.
    »Pst«, flüsterte ich Dorit zu, die neben mir saß. Ich wusste, dass sie gekränkt war, weil Fejge nicht sie für die Rolle des kleinen Fischs ausgesucht hatte. »Komm, lass uns weglaufen!«
    Dorit war begeistert.

    »Dein Blick verrät mir ohne Worte, was du willst«, sagte sie einmal zu mir, als wir schon groß waren.
    Sie hatte sich schon immer eingebildet, mich durchschauen zu können, all meine Gedanken zu kennen, all meine Wünsche. Ein altvertrauter kleiner Zorn schoss in mir hoch.

    »Komm, lass uns meinen Vater suchen«, hatte ich ihr damals vorgeschlagen.
    Dorit war rot geworden.
    »Komm!« Ich zog sie hinaus, während die anderen Kinderaufstanden, um zu tanzen, und wir liefen auf die Straße, erschrocken vor unserem eigenen Mut.
    Wir rannten über die Straße, auf der nur
Alte-sachen
-Mietek mit seinem halb blinden Esel entlangkam, ließen den Lumpensammler und sein Gerümpel hinter uns und landeten bei Elektro-Koslowski, der seinen Laden mit einem quietschenden Ventilator zu kühlen versuchte, allein an der Kasse stand und sehnsüchtig auf Kunden wartete, die nicht kamen.
    »Wo ist mein Vater?«, fragte ich ihn.
    Herr Koslowski schwieg verlegen und nahm aus einem Regal eine alte Taschenlampe. Er schenkte sie mir und warf Dorit einen ärgerlichen Blick zu.
    Draußen stießen wir auf
Alte-sachen -Mietek
, der meine Taschenlampe gierig betrachtete.
    »Wo ist mein Vater?«, fragte ich auch ihn.
    »Irgendwo«, erwiderte er mit einem zahnlosen Lächeln und streckte die Hand nach der Taschenlampe aus.
    »So, dann bekommst du sie nicht«, fertigte ich ihn ab.
    »Klafte
1
«
, schimpfte er. Ich hatte das Gefühl, er wollte noch etwas sagen, aber Dorit beschloss, vor ihm davonzulaufen.
    Ich zog sie in die Richtung unserer Wohnung. Ich hatte mir überlegt, dass mein Vater vielleicht zu uns nach Hause kam, wenn ich nicht da war. Diesen Gedanken behielt ich für mich, ich verriet ihn auch Dorit nicht. Ich sagte nur zu ihr, mein Vater sei eine Art Vater, der sich versteckt. Ich erzählte ihr nicht, dass ich ihn hinter unserem Haus verschwinden und eilig auf der Allee davonlaufen gesehen hatte, wahrscheinlich auf dem Weg zu seinem Versteck, und einmal hatte ich ihn sogar in Fejges Küche gesehen. Ich hatte Angst, Dorit würde sagen,das sei Unsinn, das könne gar nicht sein. Stattdessen erzählte ich ihr, ich würde mit meinem Vater Verstecken spielen, er wäre derjenige, der sich versteckt, und ich diejenige, die sucht, und eines Tages würde ich ihn finden. Zu meiner Freude hörte Dorit nur zu und sagte nichts.
    Mein Vater wird eines Tages noch auftauchen, sagte ich mir, trotz des Schweigens meiner Mutter, trotz Dorits Schweigen, trotz des Schweigens aller anderen, obgleich ich keinen Beweis für seine Existenz hatte, obgleich ich nicht wusste, wie er aussah, und auch nicht wusste, wie ich ihn erkennen sollte. Ich wusste nur, eines Tages werden wir uns treffen.
     
    Doch von Elektro-Koslowski gingen wir erst einmal zur Synagoge. »Wo ist mein Vater?«, fragte ich den Synagogendiener, der sich die Hitze mit einem Taschentuch fortwedelte. Er versuchte mich loszuwerden und fing an, irgendetwas von dem wunderbaren Schnee zu stammeln, den es in Białystok gegeben hatte.
    Enttäuscht verließ ich die Synagoge. Ich wollte nun nach Hause, aber Dorit beharrte darauf, noch zur Praxis von Dr.   Wollmann zu gehen.
    »Dann schon lieber in den Kindergarten«, sagte ich verärgert.
    »Vielleicht ist dein Vater bei Dr.   Wollmann, vielleicht fühlt er sich nicht gut.« Dorit zog mich Richtung Krankenkassenambulanz.
    »Aber meine Mutter arbeitet dort«, schrie ich sie an.
    »Wenn jemand nicht nach Hause kommt, dann ist er entweder krank oder etwas anderes Schlimmes ist ihm passiert, das weiß doch jeder. Wir müssen zu Dr.   Wollmann gehen«, überredete sie mich.
    Vielleicht ist mein Vater wirklich dort, schoss es mir durch den Kopf, vielleicht besucht er ja meine Mutter bei der Arbeit.
    Aber im Hof der Krankenkassenambulanz trafen wir auf Fejge, die Kindergärtnerin.
    »Sie ist schuld«, sagte Dorit sofort. Ich warf ihr einen wütenden Blick zu.
    »Arme Helena, dieses Kind ist wirklich eine Plage«, hörte ich Fejge murmeln.
    Ich zwickte Dorit in den Arm.
    Dorit fühlte sich gezwungen, mich zu verteidigen: »Ihr war nicht gut.«
    Aber Fejge hörte gar nicht
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