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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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Stamm. Itta stand am Straßenrand. Als die Autobustür aufging, stürmte sie hinein.
    »Das war nicht ich!« Schmulik sprang vom Fahrersitz auf und deutete auf den Gruppenleiter. »Der war’s, der sie weggeschickt hat.«
    »Ich habe sie nicht weggeschickt, ich habe nur gesagt, dass sie ins Sommercamp ihres Vaters gehen soll«, verteidigte sich der Gruppenleiter, den Ittas metallischer Blick sichtlich erschreckte.
    »Ich glaube es nicht«, schrie sie Schmulik an, »vor diesem Bürschchen hast du Angst?«
    Itta hatte es übernommen, mich zu rächen. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich näherte mich dem Autobus.
    Itta packte den Gruppenleiter am Arm. »Schau dir diesesBürschchen an, schau ihn dir ganz genau an, er ist ein Pisser von gerade einmal sechzehn Jahren, er ist keiner von der SS.« Schmulik wurde blass. Der Gruppenleiter zappelte in Ittas Händen. Im Autobus war es still geworden.
    Mein Lächeln wurde noch breiter. Auch Itta konnte sich peinlich aufführen, nicht nur meine Mutter.
    »Warum hast du nichts gesagt?«, schrie Itta ihren Mann auf Jiddisch an. »Du weißt doch ganz genau, wo ihr Vater ist!« Sie schüttelte ihn.
    Meine Freude war verdorben, mein Lächeln erstarb.
    Dorit sprang aus dem Bus. »Hast du was gesagt?«, fiel sie, rot vor Zorn, über mich her.
    Ich schwor, dass ich es nicht getan hatte.
    »Dann ist bestimmt Fejge hier vorbeigekommen!«
    Ich bestätigte es mit einem Blick.
    »Hoffentlich sterben sie alle in Hitlers Grab«, schimpfte sie. »Ich gehe jedenfalls nicht mehr in dieses Sommercamp!«
     
    Natürlich erfuhr meine Mutter von dem Vorfall. »Was ist heute passiert?«, fragte sie.
    »Warum habe ich keinen Vater?«, brach es aus mir heraus.
    »Es gibt auf der ganzen Welt nicht einen Menschen, der keinen Vater hat«, sagte sie mit eisiger Stimme, und mir wurde klar, dass ich diese Frage besser nicht gestellt hätte. Ich wusste, nun würde meine Mutter den Rest des Tages schweigen, ich würde nur noch hören, wie in der Küche das Messer auf das Hackbrett schlug.
    »Dann frage ich eben Schmulik«, sagte ich bockig, als sie grimmig die grüne Paprika klein hackte.
    Sie antwortete nicht.
     
    Schmulik stand vor seinem Haus und spritzte mit einem Gartenschlauch die Hecke.
    »Wo ist mein Vater?«, rief ich.
    »Dein Vater   … er   … er war im Sanatorium«, stotterte er überrumpelt.
    »Und wo ist er jetzt?«
    Schmulik schwieg.
    Golda Poschibuzki, die Nachbarin, ging an uns vorbei. »Warum hört man nicht auf, die Kleine verrückt zu machen?«, zischte sie. »Jemand soll es ihr doch endlich sagen!«
    Sie trat einen Schritt auf mich zu, packte mich am Arm und schaute mir in die Augen. Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie mir etwas sagen, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Ich begriff, dass sie plötzlich erschrocken war, und statt etwas zu sagen, strich sie mir über die Wange, eine Berührung, die brannte wie eine Ohrfeige.
    Ich erstarrte. Golda schloss die Augen, ließ meinen Arm los, holte tief Luft, drehte sich um und ging weiter.
    Ich zitterte am ganzen Körper, trotzdem fragte ich Schmulik noch einmal: »Wo ist mein Vater?«
    »Frag deine Mutter«, antwortete er mir mit schwacher Stimme und seine Augen folgten Golda, die sich immer weiter entfernte.
    »Ich habe sie schon gefragt«, sagte ich gereizt. »Ich frage sie die ganze Zeit!« Schmulik gab mir keine Antwort. Er drehte den Wasserhahn zu, rollte den Schlauch zusammen und verschwand im Haus.
    »Was habe ich denn getan?«, rief ich ihm nach. »Warum gibst du mir keine Antwort?« Ich raffte meinen Mut zusammen, um das, was ich fühlte, herauszuschreien.
    Itta tauchte im Küchenfenster auf.
»Nu hejbt sich on a
majsse!
2
«
Sie schlug die Hände zusammen und drehte die Augen zum Himmel. »Was will sie bloß von ihrer Mutter?«, fragte sie den Schöpfer der Welt. »Haben ihr die Deutschen, ihr Name sei ausgelöscht, nicht genug angetan?« Und zu beiden, zu Schmulik und Gott, sagte sie: »Sie wird Helena noch umbringen.«
     
    »Mein Vater ist gekommen«, wählte ich als Thema meines Aufsatzes. Noch am selben Abend schickte ich ihn als Wettbewerbsbeitrag an die Kinderzeitung unseres Viertels, die von Ruthi, der Lehrerin, in den großen Ferien herausgegeben wurde.
     
    »Mein Vater ist gekommen, er schaute mir von der Straßenecke entgegen, er flüsterte mir zu, dass wir in den Lunapark gehen würden.
    Dort, ganz oben auf dem Riesenrad, waren nur wir beide, und die Stadt Tel Aviv war ganz klein, die Menschen
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